da ich nichts weiter tue als mich in mir umzutun

Ich ruppe, sie ruppt, er ruppt, es ruppt. Wir ruppen. „Ruppen“ wurde in Ost-Berlin seit den 80ern zu einer beliebten Praxis. Die Bezeichnung entstand aus dem Dialektwort „rupfen” und verband in etwa die Bedeutung, „dem Vogel die Federn ausreißen” mit der umgangssprachlichen Bedeutung „jemanden um sein Geld bringen”. Gemeinschaftlich wurde dabei beraten, ob ein unbekannter, unliebsamer Punk „ok ist oder nicht“. Wenn dieser „nicht ok“ war, wurde ihm nahegelegt, sich seiner Kleidung zu entledigen, seine Badges, Sicherheitsnadeln abzumontieren und als „normaler Mensch“ herumzulaufen:

„Da lief ’nen Typ rum mit ’ner total geilen Lederjacke. Dit war für mich eben ’nen Bettnässer, also hab ick ihn mir vorjeknöpft und hab die Jacken jetauscht. Er hat dann sozusagen meen Sakko bekommen und ick bin mit Jacke weter jelaufen. Dit war dann eben ‚ruppen‘“.

Die erste Punker*in im Osten war „Major“, eigentlich Britta Bergmann. 1977 wohnte sie, 15 Jahre alt, in Köpenick, als sie die Reibeisenstimme eines Predigers im West-Radio Luxemburg hörte.

Oh don’t pretend ’cause I don’t care
I don’t believe illusions ’cause too much is real
So stop your cheap comment
Cause we know what we feel

Britta kopierte ein Foto aus der BRAVO, auf dem „Johnny Rotten“, damaliger Archetyp der Rebellion für West- und Ostler*innen, Sicherheitsnadeln an den Schulterklappen seiner Jacke trug. Sie kopierte diese Epauletten, verschnitt sich die Haare, bearbeitete Pulli und Hosen mit Schere und Kuli und wurde am nächsten Morgen von einem Kameraden selbstverständlich mit „Morgen Major!“ begrüßt. Bald schon steckte sie sich auch eine selbst gebastelte Plakette mit „Ich bin ein Staatsfeind“ an. Britta hieß von jetzt an nur noch „Major”.

Die Junge Welt, damals zentrales Organ der FDJ, bemerkte über die Punks westlicher Herkunft, ihre Musik sei „musikalischer Analphabetismus“.

Ich hab geträumt die Menschen wären Marionetten
Die Grossen, die Kleinen, die Dummen und die Fetten!
Sie hingen alle an roten Stricken
Statt Herzerschlagen hört ich’s Ticken, Ticken, Ticken, Ticken
Zog man an einem dieser Fäden
Fingen sie an zu reden!
Sie redeten vom Wetter, sie redeten vom Essen, sie redeten vom Ficken
Statt herzerschlagen hört ich’s Ticken

Als Teil der distanzierten Mediengeneration der zwischen 1960 und 1975 im Osten Geborenen, verleibte sich „Major“, so wie andere nach Autarkie lechzende junge Ostler*innen, die schöpferischen Auswüchse der westlichen Kultur ein, wie etwa die nach außen gekehrte Vorliebe für eine frivole Anti-Ästhetik und den „musikalischen Analphabetismus“. Diese wurden den ostdeutschen Verhältnissen angepasst, ausgebaut und nonchalant zu mal mehr, mal weniger originellen Szeneschöpfungen synthetisiert und im spezifischen Milieu der geschlossenen Gesellschaft exotisiert.

Mein neuer Freund heißt
Dagobert, der ist sehr stark mitunter
Wenn einer mir an’ Wagen fährt, hau ich ihm eine runter.

Vor allem die in Worte gefasste Musik, der singbar intendierte lyrische Text, wurde für Bands und Interpreten als Zeichensystem mit kommunikativem Mehrwert zum Stoff ihrer geistigen Antriebskräfte und zum notwendigen Stimulans individueller und gesellschaftlicher Selbstreflexion.

Texte wurden regelrecht zum „Material” und ihrerseits als Wirklichkeit anerkannt. Der Umgang mit diesem Material entwickelte sich in der Rock / Punk-Musikszene des Ostens im Laufe der 70er und 80er Jahre vom „Kopieren“, der Aneignung durch Wiederholung und Nachahmung, zur Aneignung durch „Resteverwertung“ im Stile Heiner Müllers, der nach Brechtscher Methode, Kopieren als Werkzeug verstand, wobei Material von Anderen als etwas Wiederverwertbares frei benutzt, nachgeahmt und neu geschrieben wurde. Dieses Material war latent, im Sinn, dass seine ständige Bearbeitung immer schon stattgefunden hatte, da es bereits gemacht worden war oder erst noch zum Material gemacht wurde. Gerade in dieser kollektiven Bearbeitung, die den Autor enteignete und alles Kategorische auflöste, witterte die damalige Jugend, ohne es zu benennen, die „utopische Signatur von Material”.

Unter dem Pflaster, ja da liegt der Strand,
komm reiß auch du ein paar Steine aus dem Sand
Zieh’ die Schuhe aus, die schon so lang dich drücken
Lieber barfuß lauf, aber nicht auf ihren Krücken.

Das, was im Alltag und Kulturarchiv des Ostens nicht existierte, wurde trotz sozialistischer Einheitsdoktrin letztlich durch fundamentale Kontextverschiebung zum mystifizierten „Neuen“. In jener Konsensdiktatur, in der sprachlicher Konformismus zur semantischen Strategie der Zugehörigkeits- bzw. Ausgrenzungsideologie ritualisiert wurde, war eine mit Worten hantierende Band weitaus mehr als nur eine Band. Durch Wiederholung, Stilisierung und Formalisierung von sprachlichen Versatzstücken wurde seitens der Regierung eine inklusionsrhetorische Behördensprache fern der Alltagssprache privater Kreise etabliert, die mit der „real”-sozialistischen Lebensrealität wenig zu tun hatte. Wer frei über diese Lebensrealität sprach, schrieb oder sang und Konformitätsgesten verweigerte, die zum Habitus einesr jedenr guten Bürgersin gehörten (ob aus Überzeugung, kompromissbereiter Anpassung oder Gesinnungslumperei), schloss sich aus und wurde in der schein-einträchtigen Kumpanei zum Häretikerin „skanda­lisiert“. Der Vorwurf lautete oft: „Subjektivismus“.

Ich bin beide Seiten einer Münze, aller Dinge Teil und Gegenteil
Ich bin Hörer, ich bin Sänger
Ich bin kaputt und also Heil.

Kopieren der „Unkultur des Westens“ wurde schon 1965 auf dem 11. Plenum des Zentralkomitees der SED gebrandmarkt und mithilfe einer obersten In­stanz für Geschmack und Stimmigkeit gefilzt.

„Ist es denn wirklich so, dass wir jeden Dreck, der vom Westen kommt, nu kopieren müssen? Ich denke, Genossen, mit der Monotonie des Je-Je-Je, und wie das alles heißt, ja, sollte man doch Schluss machen.“

Die Abkehr vom Dreck drückte sich zum einen in einer Einstufungskommission mit strengem Lektorat aus, die nach einem „Vorspiel“ der Antragstellerinnen über Berufs- und Spielerlaubnis urteilte. Sogenannte „gemäßigte” Bands bekamen eine staatlich lizensierte Spielerlaubnis, mussten sich oft umtaufen und heikle Strophen streichen; kompromisslose Bands hingegen Spielverbot mit besten Aussichten auf strafrechtliche Jagd durch den MfS. Die meisten schwammen im Dazwischen hin und her. Eingestuft wurde in Grund-, Mittel-, Ober- oder Sonderstufe, wonach auch die Stundenlöhne der Musiker*innen hoch oder runter gingen. Eine 60:40-Regel schrieb Bands vor, bei ihren Auftritten mindestens 60 Prozent DDR-Titel und 40 Prozent Westtitel zu spielen, was Bands meistens dazu brachte, selbst zur Feder zu greifen und eigene Titel einzustreuen.

Um eine Spielweise zu vermeiden, die sich „hemmend auf die sozialistische Bewusstseinsbildung“ auswirken könnte, wurde vorsorglich eine Arbeitsteilung zwischen den Musiker*innen einer Band und externen Textdichtern als beschirmende Ziehmütter angestrebt, die unter dem Deckmantel der zuverlässigen Aufsichtspflicht jedoch oft symbiotischer und schwesterlicher ablief als vorgesehen und die Zensur bisweilen zu umgehen wusste. Bis Mitte der 80er Jahre änderte sich an den staatlichen Richtlinien für Musiker*innen nichts, nur an den Methoden zur Umgehung dieser.

ich fühle mich in grenzen wohl
komm hoch wenn ich wenns hoch kommt
wenns mir hochkommt unten
bin und angeschnallt mein
schleudersitz
ist angespannt wie aufmerksam
(…) dies ticken hier zersetzt den standpunkt
der im gedrängten raum noch bleibt
und immer mehr verdichtet wird die zeit.
17

Man könnte spekulieren, dass es gerade die zensierende Gesinnungskontrolle über die Qualität der Musik und Songtexte gewesen ist, die das kreative Schöpfungspotenzial zwischen hypothetischer Linientreue und Dissidententum, entlang dem „aus Alt mach Neu“, anstachelte. Texter*innen operierten vom Komitee abgelehnte Texte um und statteten sie mit bedeutungsschwangeren poetischen Doppelbödigkeiten sowie nahezu überstrapazierten Metaphern, Ellipsen und Reim­formen aus – ohne dabei den Hang zur Umgangsprache zwecks unmittelbarer Adressatennähe einzubüßen.

Vor allem systemkritische Seitenhiebe sollten so camouflagiert werden und zwischen den Zeilen, statt im wahrsten Sinne des Wortes wirken. Manche Wortbilder blieben offen, mutierten platzhalterartig je nach politischem Wind und Wetter sowie den Deutungen des jeweiligen Publikums. Wo selbst die heute abgeschmackte Zeile „König der Welt” 1977 wundern ließ, ob denn nun „Genosse Erster Sekretär” oder die Republik selbst als feudal-absolutistischer Staat gemeint sei, wurden belanglose Worte schnell mal zu belangvollen; explizit unpolitische zu implizit politischen bzw. umgekehrt.

Wir bezwingen Ozeane
mit’m gebrauchten Narrenschiff
ueber uns lacht ne goldene Fahne
unter uns ein schwarzes Riff
immer noch stampft die
Dampfmaschine
volle Kraft voraus
immer noch gibt uns die Kantine
kostenloses Essen aus
19

Eine Legende und bewährtes Täuschungsmanöver, um Kritik am Auge der Zensur vorbei in die Masse zu katapultieren war der „grüne Elefant“. Vermutlich geboren wurde das Stilmittel aus dem rosa Elefanten (pink elephant), der als einstiger Saloon-Slang, einen halluzinösen Typus von Suff beschreibt und 1913 in Jack London’s Roman John Barleycorn zum ersten Mal auftritt. Herrühren könnte die Bezeichnung allerdings auch vom gleichnamigen, grünlichen Heilöl aus der sozialistischen Republik Vietnam, das in der ehemaligen Sowjetunion als Panazee gegen vielerlei Leiden Gebrauch fand. Im Osten war der „grüne Elefant”, so erzählt man sich, Deckname für einen in Textstellen strategisch eingebauten Superlativ von kritischen Provokationen, der von unterschwelligen, devianten Tönen ablenken sollte, die Mitte der 80er Jahre immer lauter wurden.

Ich sitz’ zu Hause bei ’ner Flasche Bier, im Radio klimpert ein
Punkklavier
Dann zünd’ ich mir ’ne Karo an und wichs’ meiner Käthe auf die hohle Hand
Aufgepasst, Du wirst bewacht vom Mf-MfS
Endlich geh’ ich dann die Straßen lang, ein Besoffner suhlt sich an ihrem Rand
Dann ruf’ ich meine Kumpels an, da hängt noch wer an der Leitung dran
Aufgepasst, Du wirst bewacht vom Mf-MfS
Ich bin K.O. und will nach Haus’, ich denk mir, ich penn’ mich aus Dann endlich geh ich durch die Tür, bis jetzt lief einer hinter mir
Aufgepasst, Du wirst bewacht vom MM-ff-SS
20

Im Zuge der Prä-Wende-Phase entwickelten sich aktionistische Sammelbewegungen gegen die musikalische Treuherzigkeit. Parallel zur systemfernen Rockmusik, entstanden mehr und mehr Punkgemeinden und -bands wie Schleim-Keim, Planlos, Koks, Rosa Extra und Namenlos. Punk wurde spätestens jetzt zur Exklamation einer „ganzheitlich distanzierten Generation“ 21, einem kulturellen Schutzraum für Aussteiger*innen, Sonderlinge und Starrsinnige, die dem Staat innerlich schon längst den Rücken gekehrt hatten. Mit der schrittweisen Einverleibung des öffentlichen Raums deklarierten sie in Eigenregie proletarische, unterjochte Lebensbedingungen zur herrschaftsfreien Zone.

Mein Garten, der blüht jedes Jahr
Betreten auf eigne Gefahr
Disteln mit spitzen Zacken dran
Disteln so hoch wie ein Mann
22

Die brechtschen Verfremdungsstrategien des Ost-Punks versuchten entgegen der Propagierung kollektiver Identitätsvisionen sich jeglicher fest-

gefahrener Identifikation zu entziehen, was ohnehin passierte, da Punk im Osten offiziell kaum konsumiert, sondern nur selbst gemacht werden konnte. Das reichte von selbstgebauten Instrumenten aus Schrott, über Anlagen aus zusammengelöteten Radios aus dem Kinderzimmer und auf der Müllkippe gefundenen Lederjacken, bis zu zermetzelten Alt-Fernsehern auf der Bühne, die neben aggressiver, teils dadaistisch anmutender Ekstase die „Leck-mich-am-Leben”-Attitüde untermauern sollte. Dass hier über eine Existenz geschrieben und geschrien wurde, die mit sich und ihren Bedingungen nicht im Reinen war, drückten die unkaschierten Anti-Themen in prononcierten Punk-Texten als „Ego-Dokumente” aus, wie Alltagstristesse im Osten, Militarismus, Zerfall und Umweltverschmutzung, der Überdruss am eigenen Dasein oder das von vorgelogener Normierung geprägte Leben der konformistischen und selbstgerechten, „normalen” Spießbürger*innen.

Der Tagebau radiert die Dörfer aus
Und der Rat der Stadt trinkt Sekt darauf
Wald und Natur finden keine
Interessen
Alles weggewalzt und von Beton weggefressen
Jauchegruben wie Elster und Pleiße wasserlos
Und stinkend nach Dreck und Scheiße
Die Russenkaserne fliegt dir um den Kopf
Und Tomaten gibt’s im Intershop
23

In diesem Leben, wo Arbeitslosigkeit ein Fremdwort war, brauchte man keine Lebensversicherung, denn das Glück war Mitglied der Partei. Hier gab es nicht zu wenig Zukunft, sondern einen Überfluss davon, der Punks die Luft abschnürte. Demaskierung paarte sich in ihren Texten mit Dyspehnismus und Selbstironie, war doch das Leben als Punker*in auch nicht bedeutungsvoller. Lyrisches Ich und empirisches Ich gingen in ihren autobiographischen Texten Hand in Hand, um schonungslos direkt dem selbst Erlebten eine Stimme zu geben, indem sie „von der eigenen Sprache (…) minderen oder intensiven Gebrauch mache(t)n, das Unterdrückte der Sprache dem Unterdrückenden in der Sprache entgegenstell(t)en.” 25 Von diesem Übel zeugten die Bandnamen, die sich auf nihilistische Selbstlähmung und Gefühlsregungen der Extreme (Totalschaden, Zerfall, Namenlos, Planlos, Zwecklos; Wutanfall, Paranoia), Ekel (Kotzübel, Schleimkeim, Rotzkotz; Rosa Extra 28) bezogen oder aber Hochkultur verspotteten (La deutsche Vita) und zum Beispiel Adolf Loos’ Feststellung, „der moderne Mensch, der sich tätowiert, ist ein Verbrecher oder ein Degenerierter“, 29 ins Bewusstsein zurückriefen (Ornament & Verbrechen).

Arbeiten fürs Büro
Arbeiten für’n Kader
Arbeiten für’n Brigadier
Arbeiten für’n Leiter
Aber wenn ich mir anseh’ was ich so rauskrieg, weiß ich nicht mal mehr, wie Geld denn aussieht
Strenge Verweise, Lohnabzüge, Undank, Befehle
Aber wenn ich mir anseh’ was ich so rauskrieg, weiß ich nicht mal mehr, wie Geld denn aussieht
30

Anders als im Westen, wo Punk ein „popkulturelles Phänomen mit politischen Ursachen” war, verkörperte Punk im Osten ein „politisches Phänomen mit popkulturellen Hintergrund”, das zum Dorn im Auge der imaginierten „großen sozialistischen Familie“ wurde. Als Konsequenz radierte das System ihre Szenetreffs aus, sprengte sie buchstäblich weg, wie das Scala in einem Mietshaus auf der Schönhauser Allee. Wer sich gegen den Sozialismus des „antifaschistischen Friedensstaates“ stellte, war nicht nur Außerirdische*r, sondern musste auch „Faschist“ sein. Punks wurden von der Schule, aus Clubs und Kneipen geschmissen, bekamen Alexanderplatzverbot, verloren ihre Ausbildungsplätze, hatten Hausarrest an Staatsfeiertagen, wurden in Gefängnisse, Heime und Irrenanstalten gesperrt und nicht selten physisch sowie psychisch malträtiert. Der Paragraph 220 des Strafgesetzbuches, der „öffentliche Herabwürdigung“ als Straftatbestand nannte, wobei jede gegen das System oder seine Vertreter gerichtete Äußerung mit einer Haftstrafe geahndet werden konnte, rechtfertigte diesen Umgang.

Du sitzt mir im Genick
In der U-Bahn streift mich dein Blick
Ich weiß nicht mehr, wohin ich soll
Gerüchte killen wundervoll.
Du steigst in meinen Freund und hörst mich aus Berichtest die Lügen wie du sie brauchst
Hyäne bedroht, bedroht durch ’ne Maus
Maus hinter Gittern, Hyäne kommt raus.
32

Als die Punkszene schon fast „zerschlagen“ war, öffnete die Kirche im Osten, die letzte „freigeistige” Instanz gegenüber dem Staat, ihre Pforten für die offene Jugendarbeit und Rechtsberatung von Unangepassten, darunter vor allem Punks. Wo Gesetzesvertreter nur mit Genehmigung rein konnten, ging das Schaffen von inneren Freiräumen nun auch mit der Inbesitznahme tatsächlicher einher. Punks nutzten das gewohnte Refugium der Hippies für Versammlungen, Konzerte, Theateraufführungen, Fanzines und Band-Neugründungen, die sich nicht unbedingt aus dem Evangelium ergaben. Hier wurden erste Interessensgruppen wie AlösA gegründet, wo Selbstdemontage, Gewalt, Alkoholismus und das aufkommende Skins-Problem erstmals untereinander diskutiert wurden. Dass gerade im „Lutherjahr“ 1983 diese abgeschlossene Verbandelung von Kirche und koexistierenden Oppositionellen aufblühte, erzürnte die Obersten, hofften sie doch aus Luther-Ehrung, Kirchenlobgesang und Antifaschismus endlich die Tünche der Kollektividentität des Volkes fertigzustellen. Stattdessen mussten sie sich auf Blues-

Messen in der Galiläa-Kirche in Friedrichshain, auf dem Freigelände in der Erlöserkirche in Rummelsburg oder Punkfestivals in der Zionskirche in Mitte den Sand im Getriebe 33 pogender Punker*innen vorm gekreuzigtem Jesus zumuten. Dass man einige wenige jener Bands dennoch im Staatsrundfunk hören konnte, während ihnen die MfS-Mitarbeiter mit Haftbefehlen vor den Kirchentüren auflauerten, war Ende der 80er Jahre Ausdruck eines wurmstichigen Staates.

Bei all der bemühten Subjektproduktion hatte dieser versäumt zu begreifen, dass Material-Praktiken wie die der Punks, die sich mit ihrer unhintergehbaren Subjektivität, minderen Sprache und dem „Dauervorgang der Wiedervereinzelung” 34 gegen die vorherrschende „Homogenese” stellten, inzwischen womöglich schon zu individualistischen Sehnsüchten im Ich-Design des*r „normalen*r Spießbürgers*in“ (sprich desr Lohnarbeiters*in) beigetragen haben könnten… 35

Ich such die DDR und keiner weiß wo sie ist
Es ist so schade, dass sie mich so schnell vergisst
Ich such die DDR und kommt sie zurück zu mir
verzeih ich ihr…
36

Anmerkungen

1 „Osten“ bezieht sich im Folgenden nicht auf die sog. Ostblockstaaten, sondern ausschließlich auf die Deutsche Demokratische Republik.

2 Der Song Pretty Vacant (Auszug) wurde 1977 von den Sex Pistols veröffentlicht. Album: Pretty Vacant / No Fun.

3 Günter Götz: Punk: Profit mit Protest, in: Junge Welt, 14. Dezember 1977, S. 5.

4 Namenlos: Alptraum, 1983 (Auszug).

5 Vgl. Rolf Lidner: Punk Rock. Frankfurt am Main 1978.

6 Modern Soul Band: Bleib mir mit der Liebe vom Leibe, 1975 (Auszug), Text: Ingeborg Branoner.

Auch wenn ein Songtext genau genommen ein Text in Aufführung ist, der im Zusammenhang mit akustischer Wiedergabe und Gesang Interpretationsspielräume erweitern kann, soll der Text hier als Ausgangspunkt für die Interpretation betrachtet werden. Er wird nicht in Abgrenzung, sondern in Nähe zum Drama betrachtet, wo der Text immer Vorrang vor der Aufführung hat.

„Deutschland spielt noch immer die Nibelungen." DDR-Dramatiker Heiner Müller über seine Theaterarbeit zwischen Ost und West“, in: Der Spiegel 19 / 1983, S. 207.

Es ist sicherlich kein Zufall, dass ausgerechnet Heiner Müller einige Exemplare des von Wolfgang Müller herausgegebenen Merve-Bändchens Geniale Dilletanten (1982) in seinem Diplomatengepäck über die Grenze schleuste und diese in der Szene im Prenzlauer Berg verteilte.

Stephan Pabst und Johanna Bohley: Material Müller: Das mediale Nachleben Heiner Müllers, Berlin 2018, S. 5.

Feeling B: Unter dem Pflaster (Auszug), Veröffentlichung: 1991. Der Song ist ein Cover des Songs Unter dem Pflaster liegt der Strand der Band Schneewittchen.

„Skandalisierung“ jenseits der staatlichen Presseorgane war im Osten kaum möglich.

Klaus-Renft-Combo: Kinder, ich bin nicht der Sandmann, 1972 (Auszug). Es handelt sich hier um die dritte, vom Lektorat gestrichene Strophe des Songs.

Walter Ulbricht auf dem 11. Plenum des ZK der SED, 1965. Es handelte sich hier unter anderem um eine Anspielung auf das „Yeah, Yeah, Yeah“ der Beatles.

MfS ist eine Abkürzung für das Ministerium für Staatssicherheit in der DDR.

Erst als die Jugend in den Untergrund abzuwandern drohte, versuchte die Regierung mit kulturellen Lockerungen gegenzusteuern und vereinzelt „die anderen Bands” in die staatliche Medien, etwa das Jugendradio DT 64 oder Parocktikum, einzuspeisen.

Stefan Döring: „Ich fühle mich in Grenzen wohl“, in: Sascha Anderson, Bert Papenfuß: Ich fühle mich in Grenzen wohl. Berlin 1985.

Karat: König der Welt, 1977. Statt von der aus der Not geborenen Kreativität zu profitieren, litt der unverkennbare DDR-Rock mehr unter dem Ergebnis der Zähmungsstrategien, wie Olaf Leitner, Musikredakteur bei RIAS Berlin, feststellte: „ohne jede subversive Wildheit ist nicht ‘satisfaction’, sondern ‘Über sieben Brücken mußt du gehn’”, Olaf Leitner: Rockszene DDR. Aspekte einer Massenkultur im Sozialismus. Reinbek bei Hamburg 1983, S. 303.

Silly: SOS, 1989. Text: Gerhard Gundermann / 

Tamara Danz.

Namenlos: MfS-Lied, 1983.

Michael Boehlke / Henryk Gericke: toomuch­future. Punk in der DDR 1979–89, Berlin 2005, Ausstellungskatalog zur gleichnamigen Ausstellung im Künstlerhaus Bethanien, Berlin.

Schleimkeim: Disteln mit spitzen Zacken dran.

L’Attentat: Leipzig in Trümmern, 1985, erweiterte Version des ursprünglichen Songs von Wutanfall.

Auch „Arbeitsbummlerei“ war ein Merkmal von „Asozialität” im sozialistische Staat und konnte damals zur Inhaftierung führen.

Gilles Deleuze und Félix Guattari: Kafka. Für eine kleine Literatur, Frankfurt a.M. 1976, S. 38f.

Punkmusik umfasste viele Richtungen, darunter Art-Punk mit Nähe zur Kunstszene, Fun-Punk und Punkrock.

Die Band Planlos bezog sich mit ihrem Namen auf die Planlosigkeit in der Planwirtschaft.

Rosa Extra war der Name einer Damenbinden-Marke. Um eine Auftrittsgenehmigung zu erhalten nannte sich die Band später in Hard Pop um.

Adolf Loos, Ornament und Verbrechen (1908), in: Loos, Adolf: Gesammelte Schriften, Wien 1962, S. 277.

Namenlos: Arbeiten fürs Büro, 1983. Text: Michael Horschig („Anarcho-Micha”).

Michael Boehlke / Henryk Gericke: toomuch­future. Punk in der DDR 1979–89. Berlin 2005, s.o.

Planlos: Ich steh in der Schlange am Currystand, 1983.

Mit dem Appell „Seid unbequem, seid Sand, nicht Öl im Getriebe der Welt”, endete Günter Eich seinen Hörspielzyklus Träume von 1953. Zu einer Parole in der Ost-Subkultur wurde u.a. Robert Rehfeldts Mail-Art-Botschaft „Sei Kunst im Getriebe”, vgl. Ronald Galenza & Heinz Havemeister. Wir wollen immer artig sein: Punk, New Wave, HipHop und Independent-Szene in der DDR 1980–1990, Berlin 1999.

Félix Guattari: Die drei Ökologien, Wien 1994,

S. 76. Guattari beschreibt so den Begriff der „Heterogenese”.

Das in diesen Text wiederverwertete „Material” entspringt u.a. Berichten von Berliner Zeitzeugen, Sach- und Fachbüchern, Zeitungsartikeln, Filmdokumentationen, Songs und ihren Texten sowie eigenen Mutmaßungen.

Feeling B: Ich such die DDR, 1991 (Veröffentlichung).

Starship 19: Apokolypse of the praktikal moment - Cover Nora Schultz
  1. Whales Nora Schultz
  2. John Boskovich John Boskovich
  3. Anonymus Place Nong Shoahua
  4. Plants and Fruits Rosa Aiello
  5. Freedom and control of others (including myself) Cornelia Herfurtner
  6. Art Crust of Spiritual Oasis in 5 chapters Jack Smith
  7. Talking with Elizabeth Ravn Julia Jung
  8. Entropic Delusional Culture Eric D. Clark
  9. How to tell a story? Francesca Drechsler
  10. A Visit from the Left Robert M. Ochshorn
  11. Lies don’t fact. On voices and fake news Mihaela Chiriac
  12. Unwirklichkeit und Wirklichkeit von sozialem Sadismus Stephan Janitzky
  13. things are scattered Max Schmidtlein
  14. Inferius Sorbilis Tinctura Elijah Burgher
  15. Looking like a human cat Stephanie Fezer, Vera Tollmann
  16. María Galindo Maria Galindo
  17. Introducing the parliament of bodies Paul B. Preciado
  18. Spukken trippen 2 Lars Bang Larsen
  19. Pieces and Masterpieces Jakob Kolding
  20. Still Lifes Vera Palme
  21. Nullerjahre Tenzing Barshee
  22. No Dandy, No Fun Hans-Christian Dany, Valérie Knoll
  23. Triplets Mark von Schlegell
  24. Kontaktlos ist nicht der Standard Ulla Rossek
  25. The Mythology of Modern Law David Bussel
  26. Another Fish Story Jay Chung
  27. A biographical interview with Huang Rui Ariane Müller, Huang Rui, Bei Dao, Mang Ke, Gu Cheng
  28. dp how many times Karl Holmqvist
  29. Save digital tech Mercedes Bunz
  30. Two dark patches Haytham El-Wardany
  31. Reflecting in Sizes Yuki Kimura
  32. Amazon Worker Cage Simon Denny
  33. La Escuela Nueva Florian Zeyfang, Lisa Schmidt-Colinet, Alexander Schmoeger
  34. I hope you keep in mind you and I are left behind Michèle Graf, Selina Grüter
  35. da ich nichts weiter tue als mich in mir umzutun Elisa R. Linn
  36. Basketcase part 1 Gerry Bibby
  37. A conversation between Daniel Herleth and Samuel Jeffery Daniel Herleth, Samuel Jeffery
  38. Dear Starship Julian Göthe
  39. The Boulders Amelie von Wulffen
  40. Other people's clothes Carter Frasier
  41. Damn Forest Mark van Yetter
  42. Imprint 19 Starship
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