Stirbt der Mensch als Künstler
HANNA hatte gerade geduscht. Auf der Badezimmerwaage überlegte sie, ob sie öfter schwimmen gehen sollte. Eigentlich war sie mit ihrem Aussehen zufrieden. Ihr kurzgeschnittenes dunkles Haar lag jetzt naß und glänzend am Kopf an. In der nächsten halben Stunde würde es sich aufrichten und widerspenstig aussehen.
Ihre Augenbrauen waren fein geschwungen, die Nase groß und wohlgeformt. Die hellen, porzellanblauen Augen wirkten selbst in dem kraftvollen Gesicht groß, schienen aber ein wenig eng zusammenzustehen, sodaß ihr Blick manchmal leer wirkte, was ihre Mitmenschen nicht selten redselig machte.
Auf ihrem Anrufbeantworter fand sich eine Nachricht von Robert. Er hatte, obwohl ihm das Band nicht viel Zeit ließ, seiner Begeisterung fürs Detail freien Lauf gelassen. Seine verrauschte Stimme beschrieb ein Armaturenbrett an dem Reste von Erbrochenem klebten. Ein aparter Kontrast zu den Autositzen. Sie rief ihn erst einmal nicht zurück, verzichtete auf Eßbares und zog sich an. Ein rosa Hemd und ihre neue, hellgraue Satinhose. Während sie die Möglichkeiten, die ihr Schuhschrank bot, überdachte - eine kleine Raffinesse am Ende der Hose machte die Wahl kompliziert - klingelte das Telefon wieder. Robert wirkte unangenehm ausgeschlafen. Sie müsse sich beeilen, falls sie die Überbleibsel noch sehen wolle. Sie bat ihn, noch 20 Minuten mit dem Aufräumen zu warten und notierte die Adresse.
Die Sonne wärmte mittelmäßig als sie mit ihrem Fiat auf den Parkplatz des Drive In Restaurants fuhr. Alles schien schon abgewickelt. Sie sah Robert neben einem japanischen Mittelklassewagen.
Der im Auto sah etwas dicklich aus, sie schätzte ihn auf um die vierzig.
“Na?” wandte sie sich an Robert. Der Mann im Auto war noch keine dreißig.
“Es gibt einen Ausweis und wir wissen bereits eine Menge. Sollen wir ihn wegräumen lassen?” fragte Robert. Sie sah sich den Mann kurz an. Er war wohl erwürgt worden. Ein dünner roter Strich schloß sauber an den Hemdkragen an. Sie nickte.
Das Auto war ein Mietwagen. Der Vertrag hatte sich in seiner Brieftasche gefunden, fein säuberlich gefaltet daneben die Rechnung eines Londoner Kaufhauses, in dem ein Anzug, offensichtlich der Anzug, am Vortag gekauft worden war. Neben einem Handy, einem Kalender und blutigen Taschentüchern, lag ein Stapel Polaroids auf dem Rücksitz. Sie warf einen Blick darauf. Unscharfe Aufnahmen, hauptsächlich von Bildern. Notizen am Rand gaben Auskunft über Größen, teilweise waren Preise notiert. Auf der Ablage des Beifahrersitzes lag eine Fastfood Tüte. “Wir haben Sie bereits angesehen, zweimal Hackfleischbrötchen, zweimal Brause, aber soweit kein Hinweis.” Gut, das würde ohnedies ins Labor gehen.
Robert reichte ihr das Handy, “die Fingerabdrücke haben wir. Sein Name war Ole Borghaus. Ein Deutscher.”
*
Sie drückte die Wahlwiederholungstaste auf dem Handy des Toten. Die männliche Stimme am anderen Ende der Leitung klang verschlafen, wurde aber sofort wachsam, als sie den Namen Borghaus nannte. Ja, er würde den Mann kennen und ja, sie könnten sich treffen. Er schlug ein Kaffeehaus vor.
Eine Stunde später saß sie dem Mann gegenüber. Der Spätdreißiger wäre mit seiner Ragga-Muffin Mütze und einem auffällig mittelblauen, nicht gerade neuen Anzug schwer zu übersehen gewesen. Als er sich setzte, fiel ihr Blick auf seine Krawatte, auf der mit violettem Filzstift der Satz stand: `Venedig kann sehr kalt sein´. Sie konnte dem morgendlichen Aufzug ihres Gegenübers, den die Leiche von heute morgen noch vor seinem Tod hatte anrufen wollen, in keinem Fall einen etwas naiven Charme absprechen.
Er hatte sie gefragt, was sie trinken 101 wolle und für sie bestellt. “Es gibt hier den besten Kaffee der Stadt. Sehen Sie sich die Espressomaschine an”, er deutete auf die Bar, “das Stück ist aus den 60er Jahren. Ich suche schon seit langem nach so einer.” “Sie sieht italienisch aus”, sagte Hanna ein wenig matt. Er lachte fröhlich: “Das tun wohl alle Espressomaschinen.” Hanna war überrascht, daß er nichts von ihr wissen wollte. Die bloße Nennung des Namens auf dem Ausweis, den der Tote bei sich getragen hatte, schien auszureichen, um aus ihr und dem Mann alte Bekannte zu machen. “Meinen wir den selben Ole Borghaus?” “Ich weiß nicht, ich meine den Ole Borghaus, den ich gestern auf dem Abendessen bei Eins getroffen habe.” Eins stand dreifach umkringelt im Kalender, den sie im Wagen gefunden hatten. Hanna hatte nichts damit verbinden können.
“Eins?” fragte sie. Jetzt war er verblüfft: „Der Galerist Eins, Sie müssen ihn kennen.“ “Eins”, sagte sie nochmals, bestätigend.
“Cremer ist ja eigentlich Borghaus’ Künstlerin. Sie und Eins haben sich wohl in New York kennengelernt, da war Borghaus natürlich auch dabei und da dürften sich Borghaus und Eins über die Ausstellung einig geworden sein.” Hanna lehnte sich zurück. Sollte sie mit diesen Namen etwas verbinden? Er dachte es wohl. Und für wen hielt er sie? Es wäre korrekt gewesen, ihn von Anfang an darauf hinzuweisen, daß Borghaus tot war. Vielleicht war es aber besser so.
“Cremer”, sagte sie.
“Ich bin erst spät zu Ines Eröffnung gekommen.” Er zog ein Gesicht, das alles bedeuten konnte. “Ich habe Borghaus beim Essen kennengelernt. Ich war nur ganz kurz bei der Eröffnung. Man sieht doch nie etwas auf Eröffnungen. Ich traf dann Charley, Charley Handes, von der Galerie Handes und wir sind gemeinsam zu dem Abendessen gegangen.” Nun, dachte sich Hanna, das wird er alles nochmal zu Protokoll geben müssen.
“ Wo war das Abendessen?” “Waren sie nicht eingeladen?” Die rhetorische Frage war mit einem überlegenen Blick verbunden, sie schien ihm ein kleines High zu geben. “Eins geht doch immer nachher ins Caravelle. Sie wissen, unten ist der Club, oben kann man essen.”
“Sie wurden Borghaus vorgestellt?” fragte Hanna. Er freute sich über ihre Neugier.
“Ich saß neben ihm. Die Assistentin von Eins, wie heißt sie noch, macht die Tischordnungen. Wir sollten wohl miteinander reden.” “Obwohl,” setzte er hinzu, “vielleicht sollte Borghaus auch bloß mit sonst niemanden reden.” Hannas fragendes Gesicht reichte, damit er deutlicher wurde. “Ich nehme nicht an, daß Borghaus viel daran lag, neben mir zu sitzen. Es war sicherlich nicht die beste Seite des Tisches. Wir hatten das Ende beim Ausgang, und da saß noch Fritz, der 80er Jahre Maler Fritz Mehedjean und dieser junge Mann, der nicht eingeladen war, aber zu Ines gehörte.” “Und Ole Borghaus?” sagte Hanna, sie wollte das jetzt doch ein wenig abkürzen.
“Warum haben wir uns eigentlich getroffen?” fragte Lindsay Hudson, ihr gesprächiges Gegenüber. Sein Gesichtsausdruck kippte für einen Moment in eine verquälte Nervosität. “Ich hatte eine Vorstellung, als Sie anriefen, aber vielleicht ...?” “Sie haben mir bisher keine Gelegenheit gegeben, es zu erklären”, sagte Hanna freundlich. Lindsay Hudson lachte souverän, griff aber nervös nach seinen Zigaretten. “Ich bin seit anderthalb Stunden mit dem Fall Borghaus befaßt.” “Der Fall Borghaus?” er warf einen schnellen Blick auf ihre Polizeimarke, die sie auf den Tisch gelegt hatte.
“Borghaus ist tot - ermordet.” Weiß der Himmel für was er sie bisher gehalten hatte, es war irgend etwas “Innen” gewesen.
“Auf seinem Handy wurde zuletzt ihre Nummer gewählt.” Er wirkte verwirrt: “Woher hatte er meine Nummer, ich kannte ihn doch nicht.” “Sie haben ihn gestern kennengelernt.” Wer Lindsay Hudson kannte, wußte, daß es nicht leicht war, ihm so etwas wie eine natürliche Reaktion zu entlocken. Fraglich, ob jemand anders als sein Zahnarzt das jemals vermocht hatte. Ja, bei Lindsay Hudson stellte sich die Frage, ob es überhaupt natürliche Reaktionen gab. In Momenten, in denen von ihm Gefühle erwartet wurden, stellte sich bei ihm ein leichter Schwindel ein, der ihm zeigte, daß es nun an der Zeit wäre, ein ausgesuchtes Gefühl zu äußern. Er konnte sich jedoch nicht erinnern, ein dem Fall angemessenes im Repertoire zu haben und schwieg.
Hanna spürte, daß sie Hudson wieder auf vertrautes Terrain zurücklotsen mußte: “Worüber haben Sie beim Abendessen mit Borghaus gesprochen?” “Ich hatte den Eindruck, er interessiert sich für meine Arbeit.” Hanna mußte an die Polaroids denken: “Sie malen?” Er schien unsicher: “Es sind mehr Konzepte, die ich dann durchführe, theoretische Ansätze.” “ Borghaus interessiert sich für sowas?” “Er tut gern so, letztlich stellt er immer nur Bilder aus.” “Was hatten Sie gestern für einen Eindruck von ihm?” “Wir haben über alles mögliche geredet.
Interessierte sich Ole Borghaus wirklich für Kunst?
Er war froh, so habe ich es mir erklärt, daß Eins auf der Eröffnung nichts verkauft hatte. Es schien ihn aber auch ziemlich nervös zu machen, nicht im Mittelpunkt zu stehen. Sie müssen wissen, das Gut der Aufmerksamkeit und seine Austauschwege ist in unserem Metier manchmal bedeutender als der materielle Güterverkehr. Borg haus gewinnt dadurch, daß seine Künstlerin Ines Cremer bei Eins ausstellt.” Er hielt einen Moment inne und sah Hanna zweifelnd an.
Sie gab sich den Anschein völligen Verstehens: “Also hat Borghaus gestern viel Geld gemacht?” “Jeder Verkauf kostet ihm auch Geld, da er von Eins nur 10 Prozent des Preises bekommt. In seiner Galerie behält er natürlich mehr ein. Aber Ines produziert nicht genug. Er könnte mehr verkaufen, und die Bilder, die Eins verkauft, würden nun fehlen. Da Eins also nichts verkauft hatte, wäre der Abend für Borghaus ein Erfolg gewesen. Aber Eins setzt die Preise immer sehr hoch an. Und Borghaus kann Ines’ Sachen dann nicht mehr viel billiger verkaufen. Nach der Ausstellung bei Eins kostet so ein Cremer mehr, aber Borghaus hat nicht die Kundschaft, die sich das leisten kann. Also lag er Cremer seit Wochen in den Ohren, ihre Bilder nicht so teuer zu verkaufen. Auch Eins hat wohl ziemlichen Druck auf sie ausgeübt.
Das ist eines seiner großen Talente.
Eins und Borghaus schlagen einander zwar dauernd öffentlich auf die Schulter, aber letztlich dürfte das gestern ein harter Tag für Borghaus gewesen sein.” “Oh”, sagte er, plötzlich von seinen eigenen Worten peinlich überrascht, “Sicher sogar.” Er schwieg.
Hanna half: “Wurde viel getrunken?” “Auch das, der Abend war lang.” “Und wann haben Sie Borghaus das letzte mal gesehen?” “Ich glaube, wir haben ihn um zwei verloren, er wollte mit Cremer noch wohin gehen, aber nein, er war später noch da, ich erinnere mich, irgendwas fiel um. Ja es war sehr spät, ich nahm ein Taxi nach Hause, kurz nach sechs.”
*
Hanna saß vor den ersten Ermittlungsprotokollen.
Ole Borghaus, Inhaber der Berliner Galerie Ole Borghaus war gestern erst nach London gekommen.
Hanna hatte in der Galerie angerufen, wo bestätigt wurde, daß er zur Eröffnung der Ausstellung einer von ihm vertretenen Künstlerin angereist war. Ihr telefonisches Gegenüber war bestürzt gewesen, die mangelnden Englischkenntnisse des Mannes hatten Hanna jedoch dabei geholfen, das Gespräch kurz zu halten.
Sie würde jedenfalls noch mit ihm sprechen müssen. Hannes Frey, so sein Name, hatte sofort darauf bestanden, selbst nach London zu kommen.
Das Labor hatte eine Unmenge von Kokain und Alkohol im Körper der Leiche gefunden. Der Tod dürfte zwischen sechs und sechs Uhr dreißig eingetreten sein.
Also höchstens eine halbe Stunde, nachdem Lindsay Hudson behauptet hatte, ihn gesehen zu haben.
Sie hatte eine Adressenliste vor sich liegen, Telefonnummern und Namen von Leuten, die Borghaus am Vortag bei dem Essen gesehen haben mußten. Hudson hatte ihr die Personen genannt. Hanna blickte auf die Liste. KünstlerInnen, GaleristInnen, einige Namen, die sie in Magazinen gelesen hatte.
Ines Cremer, sie würde mit ihr anfangen.
*
Ines Cremer war am selben Tag früh um acht voller Unruhe und Sorge munter geworden. Eine Unmenge neuer, ungeahnter Zweifel war plötzlich an diesem Morgen in ihr erwacht. Sie hatte sich vordem nicht vorstellen können, daß sie je so aufwachen könnte. Das weiße Bettlaken verstärkte den Ekel, den sie für sich selbst empfand. Trotz der rasenden Kopfschmerzen konnte sie sich bis ins kleinste Detail an alles, was in der letzten 104 Nacht vorgefallen war, erinnern. Monoton wiederholten sich einzelne Szenen immer wieder vor ihrem inneren Auge.
Jeder Blick auf die Gegenstände im Zimmer, wie der Taschenspiegel, die beim Tanzen zu engen Schuhe oder der kleine Notizblock löste die Filme aufs Neue aus. Zwischen ihren Fingern zerrieb sie einige der Notizen, die sie am Vorabend heimlich auf der Toilette gemacht hatte, zu gelben Bröseln. Manches tippte sie in einen aufgeklappt neben sich liegenden Laptop. Es wurde ihr klar, daß sich in ihr etwas allmählich vollzog, ein ihr bis dahin völlig unbekannter Eindruck, unähnlich allen früher empfundenen.
Gleichzeitig erkannte sie aber auch, daß der Gedanke, der in ihr erwacht war, im höchsten Grade unausführbar war - so unausführbar, daß sie sich ärgerte und schnell darüber hinwegging zu anderen mehr der Wirklichkeit angehörenden Sorgen und Schwierigkeiten, die ihr der “verwünschte gestrige Tag” gebracht hatte.
Unruhe und Sorge hatten sich noch verdichtet, als sie drei Stunden später Hanna in der Lobby ihres Hotels traf.
Hanna hatte ihr bereits am Telefon die wichtigsten Details mitgeteilt.
Sie musterte die junge Frau, die in der Kulisse des eleganten Hotels wie ein Irrtum wirkte. Sie ging an ihr vorbei, ließ sich vom Portier Hanna zeigen und ging unentschlossen die wenigen Schritte zurück, auf Hanna zu. Hanna hatte lange niemanden mehr gesehen, der so müde aussah.
Für einen Moment war sie erschrocken darüber, daß ihr kein mitfühlender Gesprächsanfang gelingen wollte. Ohne daß Ines Cremer sie wirklich angesehen hatte, setzten sie sich.
Hanna begann nochmals: “Arbeiteten Sie schon seit langem mit Borghaus zusammen?” Die Antwort ließ auf sich warten.
Ines Augen schienen den ganzen Raum nach ihr abzusuchen.
Hanna versuchte es anders: “Vielleicht können Sie mir etwas über den gestrigen Abend erzählen?” Das war offensichtlich etwas, das Ines Cremer nicht wollte. Sie antwortete mit einer Frage ohne von der Tischplatte aufzusehen: “ Wann, meinen Sie, ist Borghaus ermordet worden?” “Man weiß es nicht genau. Nach sechs. Auf seiner Rechnung,... der Kassabon des Schnellrestaurants war von sechs Uhr achtundzwanzig.” Cremer schien erleichtert. Sie sah sie das erste mal an.
“Ich war um fünf im Hotel.” Und als Hanna nichts sagte, da sie sich noch mehr Antworten auf Fragen, die sie nicht gestellt hatte, erhoffte, fügte sie hinzu: “Es muß Ihnen komisch vorkommen, daß ich das so direkt sage, aber ich kann mich nicht erinnern, was in der letzten Nacht passiert ist. Aber ich weiß, ich war um fünf im Hotel.” “Wenn Sie sich nicht erinnern, wieso wissen Sie das dann noch?” “Ich arbeite - wissen Sie, ich bin Künstlerin - ich arbeite an einem Projekt.
Es ist eine Art Tagebuch. Ich lasse mich beobachten. Es ist eine Art Reisetagebuch, das ich vorhabe.” Hanna war erstaunt: “Man hat mir gesagt, Sie malen?” “Ja, ich male. Das ist ein anderer Teil der Arbeit.” “Wer beobachtet Sie?” Hanna war ehrlich interessiert.
“Eigentlich sollte mich mein Assistent beobachten. Aber ich kann es mir nicht leisten, daß er die ganze Zeit arbeitet.
Ich meine, er ist kein Detektiv - es ist kein richtiges Angestelltenverhältnis, wir beobachten einander, glaube ich, gegenseitig.” Sie versuchte zu lächeln.
“Er ist gestern früher gegangen oder ich denke, er ist früher gegangen.
Aber ich lasse mir auch im Hotel eine Liste darüber anfertigen, was ich tue. Ich sammle Daten über mich.” Sie sah Hanna ein wenig verwirrt an.
Hanna schwieg.
“Das wird Ihnen keinen Sinn machen.” “Bitte”, sagte Hanna, “wir von der Polizei haben auch unsere Arbeitsmethoden.” Ines Cremer lächelte sogar ein wenig.
“Ja, darum geht es. Ich frage Leute, ob sie sich an mich erinnern können. Das wird alles ein Bild über mich.” “Können Sie mir etwas erzählen, daß mit Borghaus in Zusammenhang stehen könnte?” “ Vieles steht mit ihm in Verbindung.” Sie griff sich plötzlich in die Haare und schob ihre Ponyfransen hoch. Ein wackeliger Schriftzug, ein altes Tattoo wurde sichtbar. Hanna las erstaunt: SOLD.
Sie erinnerte sich vage an ein Buch, das sie einmal gelesen hatte.
“Das ist von Borghaus?” fragte sie.
“Oh nein;” Ines mußte lachen, “nein, das ist Eighties, das ist alt. Aber es ist auch von Borghaus oder für Borghaus.” Aber sie merkte doch, daß sie Hanna verwirrt hatte: “Haben Sie meine Ausstellung gesehen?” fragte sie in einem beruhigendem Tonfall.
Hanna hatte sie nicht gesehen. Wie zur Entschuldigung griff sie nach den Polaroids, die sie neben sich gelegt hatte.
“Wir haben diese Bilder bei Borghaus gefunden. Kennen Sie sie?” Ines sah sich die Polaroids beiläufig an: “Oles Vertreterkoffer. Am Anfang hatte er noch diese großen Ektachrome.
Inzwischen sagt er mir sogar, daß sich meine Bilder so unscharf besser verkaufen lassen. Es soll wohl nach Tempo aussehen”.
Sie griff eines heraus: “Das, das ist auch in der Ausstellung.” Hanna hatte Schwierigkeiten auf dem Polaroid etwas auszumachen, über das sie mit Ines Cremer hätte reden können.
Sie hatte den Eindruck, sich nicht deutlich genug gemacht zu haben. Sie sah auf die Uhr.
“Vielleicht kommen Sie heute nachmittag bei mir im Büro vorbei und bitte, bringen Sie Ihre Aufzeichnungen der letzten Tage mit.” Sie sah Ines Cremer nach, die genauso unbestimmt wie bei ihrem Kommen durch die Lobby zum Lift ging.
Hanna rechnete sich aus, daß sie wenn sie gleich in die Galerie fahren würde, noch knapp vor Ines Cremer dort sein müßte. Sie wunderte sich selbst, daß sie so sicher war, sie gleich wiederzusehen.
In Hannas Leben hatte es nie viele Gründe gegeben in Galerien zu gehen. Ihre Freunde traf sie in Bars, fremde Menschen lernte sie manchmal überall und dann wieder über Monate gar nicht kennen.
Es gab dennoch ein Bild in ihrem Kopf, das Galerie hieß und als sie Eins’ Galerie betrat, sah sie, daß sie an diesem Bild nicht viel ändern mußte.
Beim Eintreten sah sie niemanden.
Der weiße mittelgroße Raum glich zunächst einem geschlossenen Kubus.
Ines Cremer will sich nicht erinnern!
Sie wollte, das hatte sie bei ihrer Begegnung mit Ines Cremer beschlossen, die Ausstellung sehen. Ein eigenartiger Mensch, dachte sie. Wenn sie sich das Gespräch mit ihr nochmals vor Augen führte, schien es ihr, als hätte Ines Cremer angedeutet, daß sie vor der Zeit, an die sie sich nicht erinnern konnte, Angst haben mußte. Hanna kannte den Wunsch, sich seiner Zeit durch Arbeit zu entledigen. Aber daß man seine Zeit direkt in Arbeit umlegen könnte, jede seiner Bewegungen direkt zum Teil seiner Produktivität machen könnte, war ihr fremd. Ines Cremer hatte Ihr Sich Beobachten Lassen Hanna wie ein Spiel erklärt. Aber Hanna schien es dennoch eigenartig, in welcher Realität dieses Spiel ablief. War das Beobachtetwerden für Ines eine Möglichkeit nicht mehr zu wissen, was sie tat? Eine Art Analyse, in der sie ihr eigenes Handeln abgab? Nicht mehr wissen, was man tat, Hanna hatte das oft selbst gesagt und trotzdem vage und zum großen Teil unangenehme Erinnerungen gehabt. Sie überlegte kurz, wie es wäre, wenn diese vagen, aber deshalb untrügbar scheinenden Erinnerungen durch einen dritten, bezahlten Beobachter korrigiert würden.
Hanna sah sich die Bilder an, die in der Ausstellung hingen: mit Lack gemalte Gitter, durch die sich wurmähnliche Gebilde schlängelten. Eine merkwürdige Kälte lag auf den großen Formaten, gleichzeitig schien ein Sog zu entstehen.
Sie wandte sich ab. Etwas von dem beiläufigen Ton, in dem Ines sie aufgefordert hatte, die Ausstellung zu besuchen, stand zwischen ihr und der Malerei.
Sie wollte nicht zum Teil eines weiteren Spiels werden, das die Künstlerin mit dem, was sie Arbeit nannte, trieb.
*
Hanna ging einige Schritte zurück auf den Gang, wo sie sich erinnerte, eine Toilette gesehen zu haben. Sie öffnete die Tür, doch statt hinein zu gehen, trat sie zwei Schritte nach rechts, um ein Stück Papier aufzuheben. Sie faltete es auf, aber bevor sie es entziffern konnte, es war eine unrunde Handschrift, hörte sie Schritte. Sie hatte nur Zeit, die Hand um das Papier zu schließen, als Ines Cremer die Treppe hinauf kam.
Beide waren aufrichtig genug, kein Erstaunen vorzutäuschen.
“Haben Sie Eins schon gesehen?” fragte Ines statt einer Begrü.ung “Ich denke, er ist nicht hier”, antwortete Hanna.
“Waren Sie im Büro?” Ines ging mit großen Schritten quer durch den Ausstellungsraum.
Die Wand war nach vorne versetzt, wodurch sich ein Durchgang in einen weiteren Raum ergab, dessen Tür Ines öffnete. Sie blieb kurz stehen, trat dann einen Schritt auf die Seite und lehnte sich gegen den Türrahmen: “Gehen Sie hinein.” Hanna nahm ihr die Klinke aus der Hand. Von der Schwelle aus sah sie in einen verwüsteten Raum. Gegen die Leere des vorderen, war das Chaos in diesem Raum umso verstörender. Sie sah niemanden.
“Ist das Eins’ Büro?” Ines schien sie nicht zu hören.
Sie lehnte am Türrahmen und sah unbestimmt in den Gang. Hanna schloß die Tür. “Ist das das Büro von Eins?” fragte sie nochmals.
Plötzlich war der Gang fast lichtlos.
Ein erschrockener Ausdruck war undeutlich in Ines Gesicht zu erkennen.
Der schmale Gang wurde fast vollständig von zwei Figuren eingenommen.
Sie sah die Gesichter nicht gleich.
“Eins,” murmelte Ines hinter ihr.
Mit einer Entschuldigung hatte sich Eins an Hanna vorbeigeschoben und, wie es ihr schien, Ines mit sich in das Büro gedrängt. Hanna sah sich einer jungen Frau gegenüber. “Anne Fecter”, sagte sie, “von der Galerie Eins. Was kann ich für Sie tun?” Hanna trat in die Tür, um Eins Reaktion nicht zu verpassen. “Kriminalpolizei” sagte sie, “ich hätte einige Fragen”.
Jetzt war Anne auch bei der Tür, Hanna sah, wie sie beim Anblick des Zimmers erschrak, ihr Mund öffnete sich, um etwas zu sagen, doch Eins, der sich umgedreht hatte, kam ihr zuvor.
“Ich habe in zwei Minuten Zeit”, sagte er ohne Anne anzusehen. “In Ordnung?” Hanna ging zurück in das klare Licht des Ausstellungsraums. Eins hatte in den wenigen Augenblicken, in denen sie ihn von hinten gesehen hatte, regungslos im Raum gestanden. Er schien etwas zu suchen. Bevor sie ihre Beobachtung abschließen konnte, stand er bereits wieder neben ihr. Er steckte ihr seine Hand entgegen: “Eins, guten Tag.” Hanna bemerkte das Papier von vorhin in ihrer Hand. Sie schob es in die Hosentasche.
Eins schien ungefähr fünfunddreißig Jahre alt zu sein. Wie fast alle Leute, mit denen Hanna in den letzten Stunden zu tun gehabt hatte, war sein Alter schwer zu bestimmen. Bei diesen Menschen wurden ausgewählte Zeichen von Jugendlichkeit von älteren Gesichtszügen konterkariert, junge Gesichter saßen auf schweren, ältlichen Körpern. Eins’ brauner Nadelstreifanzug war maßgeschneidert, für seinen verwachsenen, kantig aus den Fugen geratenen Körper wahrscheinlich die einfachste Lösung.
Einige Joghurtflecken auf dem Revers waren das Sympathischste, was er zu bieten hatte. Sie lächelte bei sich. Es waren Joghurtflecken, sie waren nicht sympathisch, sondern wahrscheinlich das Projekt eines Künstlers, der den Galeristen täglich beschmierte und irgendwann würden die Rechnungen der Reinigung in einer Ausstellung hängen.
Bevor sie den Grund ihres Besuchs erläutern konnte, piepste ein Handy. Eins griff in die Jackettasche. Er entschuldigte sich kurz und formlos bei dem Anrufer, er käme zu spät, aber es sei etwas Dringendes dazwischengekommen. Er klappte das winzige Handy zu und sprach sofort weiter. Ines hatte ihm von Borghaus Tod erzählt.
“Ich vermute, es handelt sich um Borghaus”, fügte er in einem Tonfall hinzu, mit dem er auch Kaffee hätte anbieten können.
Was ist im Büro der Galerie passiert?
Von hinten waren Ines Cremer und die Galerieassistentin in den Raum getreten.
Ines trug einen Ordner unter dem Arm. Eins Hand glitt blitzschnell unterhalb seiner Nase entlang, während eine Schweißperle verschwand.
“Ich würde gern mehr über den gestrigen Abend erfahren”, sagte Hanna.
“Vielleicht könnten wir zu viert in ihrem Büro darüber sprechen.” Sie wollte die Künstlerin noch nicht gehen lassen und sie wollte Eins gern in Anwesenheit der beiden Frauen sprechen. Vor allem war sie aber an dem Büro interessiert.
“Dürfte ich Sie bitten, zunächst mit Anne zu sprechen. Meine Assistentin, sie kannte Borghaus. Ich war eigentlich gerade auf dem Weg zu einem Termin.” Er hob das Handy kurz, um sie auf den Zusammenhang mit dem Telefongespräch hinzuweisen. Er zögerte ein Was ist im Büro der Galerie passiert? 108 wenig. Plötzlich legte er Hanna leicht die Hand auf den Arm und sah sie an: „Es tut mir schrecklich leid wegen Borghaus.
Wir müssen miteinander reden. Bitte machen Sie sich einen Termin mit Anne aus. Ich bin hier wirklich nicht einmal Herr über meine eigene Zeit.” Er ging. Wieder schien er Ines Cremer mit sich aus dem Raum zu drängen. Hanna fand sich mit Anne allein.
Anne trug eines der dezentesten Kostüme, das Hanna seit langem gesehen hatte. Das sicher sündhaft teure Stück wirkte farblich abgestimmt auf die Malerei von Cremer. Hanna überlegte, ob Eins es ihr als Arbeitskleidung gekauft hatte. Oder verdienten Menschen, die in Galerien arbeiteten, soviel? Hanna hatte an diesem Tag erfahren, daß der Geldfluß in diesem Metier einer anderen Logik folgte.
“Ich benötige Informationen über das gestrige Abendessen”, sagte sie.
“Wer war dort?” “Ich habe eine Liste. Es gab eine Tischordnung”, meinte Anne. Hanna wartete.
“Ich könnte sie holen”, sagte Anne zögernd.
Hanna sah sie aufmunternd an.
Anne schien sie mit ihrem Blick an den Fußboden zu kleben. Das galt Hanna jedoch als Aufforderung ihr, kaum hatte sie den Raum verlassen, in das Büro zu folgen.
Seit ihrem ersten Eindruck schien noch nichts verändert.
Sie war zur gegenüberliegenden Wand gegangen, um sich so weit wie möglich von Anne zu entfernen.
“Sind das auch Arbeiten von Ines Cremer?” “Ja”, sagte Anne, und “das ist hier eigentlich kein Ausstellungsraum.” “Ich interessiere mich sehr für Ines Cremer”, sagte Hanna, “eine komplexe Arbeit, das mit der Selbstbeobachtung.” “Wir sollten vielleicht wieder hinausgehen” schlug Anne vor.
Hanna sah sich den Inhalt der silbernen Rahmen erst jetzt genauer an. Es waren Diagramme oder Pläne, in die kleine Fotos montiert waren. Eine solche Serie A4 großer Computerausdrucke mit handschriftlichen Anmerkungen zog sich wie ein Fries über die Wände des Büros.
Unterbrochen wurde das strenge Band nur von der Tür und zwei schmalen Fenstern, die wie zu groß geratene Schießscharten den Blick auf die Außenwelt öffneten.
Sie las: 9:00; eine schwarz gekleidete jüngere Frau, die an dem Tisch in der Ecke Kaffee getrunken hat. Sie hat gleich gezahlt, sie hat wohl mit niemandem gesprochen. Ich kann mich nicht erinnern, sie schon einmal gesehen zu haben.
11.00; Das ist die Künstlerin, die oben wohnt, sie kauft hier häufig ein.
Die Zeitung halt und Zigaretten, meistens spät.
16.00 Gespräch mit Borghaus, er wird die Ausstellung im Februar nicht machen, wir sprachen über uns...
Anne unterbrach sie, mit eine Stimme, die so gar nicht in diese Welt perfekter Selbstbeherrschung passen wollte: “Darf ich Sie bitten, mit mir hinüber zu gehen!” 109 Hanna wies mit der Hand auf die Stelle, die sie eben gelesen hatte: “Das ist hier sehr interessant. Sehen Sie, Borghaus wird erwähnt.” “Das sind die Aufzeichnungen, die Ines Cremer macht. Das sind Beobachtungen, die sie sammelt, indem sie Leute nach sich fragen läßt.” “Ist das eine Serie?” fragte Hanna.
“Ja,” sagte Anne Fecter immer ungeduldiger um halbautomatisch hinzu zufügen, “sie macht das meistens über einige Tage lückenlos.” “Hier scheinen zwei zu fehlen,” sagte Hanna, sie deutete auf zwei nebeneinander liegende leere Stellen in der Reihe.
Anne zögerte: “Wir dürften sie verkauft haben.” “Das kann man verkaufen? An wen?” “Ich mü.te nachsehen.” Anne machte keine Anstalten es zu tun. “Ich habe jetzt die Tischordnung”, sagte sie schnell.
Hanna folgte ihr aus dem Raum.
“Wer ist Cremer + 1”, fragte sie, nach einem Blick auf die Liste.
“Das ist jemand, den Borghaus mitbrachte, ein Freund von Ines.” Auf der Liste waren 17 Personen vermerkt.
Borghaus war tot. Vier weitere hatte Hanna kennengelernt: Hudson, Cremer, Eins und Anne, die in der Tischordnung keinen Familiennamen besaß.
Severin Smith, las sie. Der Ex-Popstar, Sammler, Maler. Hudson hatte ihn erwähnt.
Francis Anderson, auch sie war auf Hudsons Liste, Hanna kannte sie aus Vogue, die sie zur bestangezogenen Künstlerin gewählt hatten. War sie nicht Eins’ Freundin, Hudson hatte etwas gesagt.
Antonia Cremer, “die Schwester von Ines”, setzte Anne hinzu. Edward, Earl of Rochester, aus den Klatschspalten besser bekannt als Rogy. Ein Schneemann, der nichts umkommen ließ und seit es in Mode gekommen war auch Kunst sammelte. Patrick Bauchau, Cathrin Linnen, Fritz Mehedjean, Alice Mehedjean, Anthony de Mathesy, auch eine andere Klatschspaltengröße, war er nicht irgendwie mit Lady Diana verwandt? Mrs Jeffroy: “sie sammelt für das Moma in New York”, erklärte Anne, “sie ist Amerikanerin”; Charley Handes, Hudson war mit ihm zum Essen gekommen und schließlich Cremer+1.
Plötzlich erklang ein kaum hörbares Geräusch. Anne zog etwas aus der Tasche. Bevor Hanna es erkennen konnte, drückte Anne ab. Die Polizistin war vom hellen Licht geblendet. Das angespannte Gesicht der jungen Frau war das letzte, was sie sah.
Noch bevor sie sich gesammelt hatte, hörte sie, wie Anne sich mit überschlagender Stimme entschuldigte. Ihr Gesicht war gerötet und sie wirkte erregt von dem Zwischenfall. Hanna sah sie etwas ratlos an. “Ich... ich mußte es einfach tun. Ich wollte sie unbedingt fotografieren. Ich dachte, der Blitz sei abgeschaltet."
“Ja,” sagte Hanna. Es entstand eine Pause, die Frauen sahen sich an. Anne wirkte vollkommen aufgelöst. “Bitte, ich... Sprechen sie nicht mit Eins darüber. Er darf nichts davon erfahren.” Komisch, dachte Hanna, auf die Idee wäre ich ohnedies nicht gekommen.
*
Es war kein Zufall, daß die meisten Leute Anne Fecter nur unter ihrem Vornamen kannten. Hätte man Eins, ihren Arbeitgeber in einem ungünstigen Moment gefragt, wäre ihm möglicherweise nicht einmal dieser eingefallen.
Sie war einfach da und kaum jemand hätte sich die Mühe gemacht, sie zu fragen, warum oder was sie von ihrem Arbeitsplatz dachte. Spät am Abend nach den Eröffnungen stellte sich zwar meistens heraus, daß auch die, die bei ihren Besuchen bei Eins, Anne kaum grü.ten, sich plötzlich Intimitäten herausnahmen.
Sie hätten sich aber gewundert, zu erfahren, wie Anne wirklich über sie dachte.
Anne Fecter war eine ehrgeizige Künstlerin. In den 80er Jahren hatte sie sich gegen den alles beherrschenden Männer - Maler Diskurs zur Wehr setzen können. Die 90er Jahre, zusammen mit ihrem eigenen Älterwerden hatten sie aber ziemlich erwischt. Erstens schien plötzlich kein Geld mehr da, zweitens wurden alle um sie herum schicker und abgeklärter. Einiges von dem, das sie geglaubt hatte, miterfunden zu haben, wurde anderen Personen zugeschrieben, die damit berühmt wurden. Anne Fecter hoffte auf das nächste Jahrzehnt. Und sie wollte sicher gehen, es mit niemanden teilen zu müssen.
Sie hatte nichts gegen ein Gespräch mit Hanna. Sie wollte ihr Bild des Kunstbetriebes vor Hanna ausbreiten. Diese umfangreiche Theorie über eine Welt, die für sie aus Galerien, Kunstmessen, Museen und einer Handvoll Nebenschauplätzen, meist Restaurants, Bars und Hotels zusammengesetzt war. Und Hanna ließ sich von Anne bereitwillig einige weitere Zimmer dieses merkwürdigen Paralleluniversums zeigen. Einer Welt, in der Waren, die man nur auf unscharfen Polaroids sah, morgens um vier den Besitzer wechselten.
Anne erklärte Hanna, daß den meisten Galeristen der fiktive Charakter ihrer Firmen höchst unangenehm war. Es gab in ihrer Erzählung Firmen, die sich darauf spezialisiert hätten, angeblich verkaufte Bilder oder Skulpturen zu lagern. Es gab Leute, Spione, die mit Informationen über die Bestände dieser, meist in verwaisten Industriegebieten gelegenen Zwischenlager, handelten.
Solche Enttarnungen angeblich verkaufter Ware konnten Karrieren beenden. Man munkelte, es sei in diesem Zusammenhang schon zu Erpressungen gekommen. Hanna sah sie an, als sei dies das Selbstverständlichste der Welt.
Anne fuhr fort, Borghaus wollte, mußte und verdiente Geld mit dem Verkauf von Kunst. Er war kurz vor dem Sprung nach ganz oben, obwohl er vor zwei Jahren noch Nachwuchs gewesen war. Dieser Aufstieg schien Anne schon wie ein Beweis gegen ihn. Ausdruck seines schlechten Charakters, der sich nicht an den ihm von irgend einer Instanz zugewiesenen Platz der sozialen Leiter hielt.
Eins war nie aufgestiegen, er war einfach immer oben gewesen. Er hatte einmal mit dem richtigen Künstler die richtige Ausstellung zur richtigen Zeit gemacht. Das hatte gereicht. Er konnte dem Glück den Puls fühlen, sein Erfolg war leicht, nirgendwo zeichnete sich der Schweiß einer neureichen Anstrengung ab. Höher als Eins ging es momentan nicht. Eins war daran interessiert, daß ihn dort, wo er war, niemand störte. Cremer war die erste Deutsche, die er zeigte, als eine Art Eintrittskarte für den Markt auf dem Kontinent.
Aus der Schilderung, die Anne von Ines Cremers Kunst gab, war eine Abneigung gegen die Person laut herauszuhören.
Anne Fecter hat ein Geheimnis
Sie nannte sie provinziell. “Und sie spielt auch noch immer absichtlich mit ihrer ländlichen Herkunft. Sie erzeugt eine Mischung zwischen Stallstimme und Weltläufigkeit, das pendelt zwischen ihrer Familie und ihren Reisen nach Singapur.” Ihre Selbstüberwachungsgeschichten wären schon interessant, die seien ziemlich durchdacht. Aber auch spekulativ, das versuchte eigentlich an alles, was theoretisch in der Luft lag, anzudocken: “Auflösung der Grenzen von Arbeit und Freizeit, neue Konstruktionen von Subjektivität oder postanalytische Selbstbeobachtungsmodelle. Vor allem auch ein Ausgehen von sich, dem Individuellen, dem “von dem man handle.”
Anne wußte, wovon sie sprach.
Auch sie überwachte sich selbst seit Jahren.
Selbstverständlich gab es keine Spur davon, ihre Selbstüberwachung war vollkommen immateriell, sie beseitigte sie Stunde für Stunde, um sich als immer unsichtbareres Wesen mitten im Fokus des Geschehens zu bewegen.
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Der Feierabendverkehr hatte voll eingesetzt.
Hanna mußte sich durch eine Menschenmenge drängen, um eine Telefonzelle zu erreichen. Robert hatte nicht viel Neues zu berichten. Im Auto hatten sich Hinweise auf viele Personen gefunden, gut, es war ein Mietwagen. Auf Borghaus’ Anzug befanden sich unter zahlreichen Flecken, die direkt oder erbrochen dorthin gelangt waren, auch Spuren von Sperma. Der Tod war zwischen sechs und sechs Uhr dreißig eingetreten. Er war gewürgt worden, doch hatte das nicht seinen Tod bedeutet. Es war möglich, daß er noch 10 Minuten gelebt hatte. Jedenfalls war es zu einem Herzstillstand gekommen. “Wir haben noch so ein Polaroid gefunden,” sagte Robert, “es lag unter dem linken Sitz”.
Hanna hatte die kurze Vorstellung, daß Borghaus beim Sex einen Herzinfarkt gehabt haben könnte. Vielleicht war gewürgt werden seine einzige Möglichkeit einen hoch zu kriegen. Sie äußerte die Vermutung. Robert lachte: “Wir haben die selben Gedanken, nein, ich habe mich erkundigt. Falls er Sex hatte, muß das viel früher gewesen sein.” “Bleib noch im Büro”, sagte Hanna, „ich schicke Dir was, das du dir ansehen solltest“.
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Sie wollte zu Fuß ins Büro gehen.
Die Schaufenster der Geschäfte waren voll mit Kleidern, die sie sich nicht leisten konnte. Seit dem letzten Jahr investierte sie mehr in ihr Äußeres. Angesichts des Angebots kam sie sich aber immer noch wie eine Bausparerin vor. Sie konnte sich gar nicht genau erinnern, warum ihr Interesse eingesetzt hatte, es hatte auch nichts damit zu tun, daß sie plötzlich mehr Geld gehabt hätte, eher weniger. Bei ihren Freundinnen beobachtete sie ähnliches.
Hanna setzte sich auf eine Bank und steckte sich eine Zigarette an. Der Aufschub schien ihr eine reizvolle Übung. Langsam griff sie in ihre Tasche und zog den Zettel heraus. Sie versuchte sich ein Bild über den Tag zu machen. Die Fickvariante wäre die beste Lösung gewesen. Sie seufzte. So einfach wurde es ihr nicht gemacht.
Ole Borghaus war um sechs noch im Ucraine Lounge, dem Nachtclub, gewesen und hatte ihn gemeinsam mit Anne Fecter, Eins und Hudson verlassen. Hudson und Anne Fecter hatten nach ihren Worten noch eine kleine Meinungsverschiedenheit darüber gehabt, ob sie sicher nicht mit ihm nach Hause gehen wollte. Von dem was zwischen sechs und sechs Uhr dreißig passiert war, konnte sie sich noch kein Bild machen.
Natürlich, es war möglich, daß Borghaus irgendjemanden auf dem Weg zu dem Fastfood-Restaurant begegnet war. Borghaus hatte Geld und Kreditkarten noch bei sich, als man ihn fand. Ob etwas im Auto war, das jetzt fehlte, wußte man nicht. Ein Raubüberfall war also nicht auszuschließen.
Etwas an den Gesprächen von heute vermittelte ihr jedoch den Eindruck, daß es sich lohnen würde, sich mit der gestrigen Tischgesellschaft eingehender zu beschäftigen. Die Menschen, mit denen sie heute gesprochen hatte, waren in einem unklaren Geflecht von Eifersucht, Geschäftsbeziehungen, Freundschaften und Ehrgeiz verstrickt. Über allem stand ein ihr fremdes Drittes, in dessen Namen all dies geschah - Kunst.
Nachdenklich faltete sie den Zettel auf. Eine eigentümliche Schrift, sie hatte sie heute schon gesehen. Sie las: Stirbt der Mensch als Künstler. Langsam überquerte Hanna die Straße. In der Telefonzelle sah sie kurz auf die Liste, die ihr Anne gegeben hatte.
Sie wählte. Am anderen Ende meldete sich eine Stimme. „Ich hatte vergessen, Sie etwas zu fragen“, sagte sie. „Was meinten Sie als Sie schrieben: Stirbt der Mensch als Künstler?“