Jeder Mensch, der ein Bier falten kann, ist ein Künstler

KOTAI Back At Ten
KOTAI + MONYC.LOOPS.008
MO Icetrain / Whisper not
Elektro Music Department

DIE DREI JÜNGSTEN Veröffentlichungen des Elektro Labels basieren auf sich wiederholenden, ruhigen Rhytmen und Beats, nicht auf Flächen. Sie wirken kühl und monoton. Das Berliner Label um Daniel Pflumm, Mo und Kotai ist fast unerreichbar, was autistischhospitalistische Psychoelektronik betrifft. EMD007 „Back at ten(slow)“ ist ein greinender, tieffrequenter Basslauf, kunstvoll mit einem langsam pumpenden Beat verwoben. Nach langem Anfang ertönt im Arhytmus dazu ein Gong, der so klingt, als ob er in einer zu einem Gebetszentrum umfunktionierten Flughafenwartehalle hängen würde. Die B-Seite „Back at ten(fast)“ bietet ein ähnliches, aber schnelleres Brett. Mehr Gongs und nicht ganz so eingängig und ergreifend. Manch einer hat diese Klänge als „Faschistenmusik“ bezeichnet. Das ist sie nicht. Faschisten würden diese Musik nicht verstehen.

Doch ihre bedrohlichen, kühlen und stampfenden Elemente erzeugen vor dem geistigen Auge möglicherweise Bilder von endzeitlichen, unfassbaren Szenen aus totalitären Systemen. Die Tatsache, daß diese Musik existiert, weist auf eine akute Bedrohung hin.

Vielleicht erfüllt diese „Negativ“Musik ja dieselbe Funktion wie der Besuch eines Horror- oder Splatterfilms, oder das Hören von Deathmetal - Katharsis. Der Track „Whisper not“ von EMD009 „Icetrain/ Whisper not“ - läßt jede Bewegung einfrieren, irgendwas scheint gerade schief gelaufen zu sein. Es gibt Versuche von Außerirdischen und selbstregulierenden Maschinensystemen, etwas mehr Schwung zu erzeugen, doch das ist nur leichtes Meisseln am Status Quo.

So sinnlos wie das Warten auf die Halbwertszeit von Plutonium. „Icetrain“ ist ein auf „Elektro“Format gebrachter Verweis auf Jimmy Tenor und Panasonic, ein Finnenrocker sozusagen. Es ist schön, wenn nach langen drei Minuten erste neue Elemente, äußerst spärlich eingesetzt, im Lied auftauchen. Weiter musikalische Vergleiche zu ziehen, ist hier echt schwer. Das ist von Maschinen erzeugte Musik, die im Moment entsteht. Für alles von Mo und Kotai gilt: die Variation ist minimal und geht kaum vonstatten. Neudefinition von Repetition. Für den unerfahrenen Hörer bedeutet das nur Monotonie, Langeweile und ein unangenehmes Gefühl im Bauch. Bei EMD008 „NYC.LOOPS.008“ wird dieses Prinzip auf die Spitze getrieben.

Acht Lieder, je auf einem Loop basierend, der nicht oder gar nicht moduliert wird. Es sind die Soundtracks zum Video von Daniel Pflumm (EMD005), der kürzlich im Hamburger Bahnhof austellte. In seinem ehemaligen Club, dem Panasonic, konnte man sich in diese Videos vertiefen, minimalistische Animationen mit Logos weltbekannter Firmen, während an den turntables (welt)bekannte Djs auflegten. Nach dem „Elektro“ war das Panasonic der Elektroclub Berlins. Jetzt lebt der Name noch im exquisiten Label weiter.

Mo legt seltener auf. Kotai startete eine Karriere als DJ, unter anderem im AcudClub mit der sonntäglichen „soirée visonik“-Reihe, die es wegen mangelnder Resonanz bei Erscheinen dieser Kolumne nicht mehr geben wird, dafür aber die INIT Bar.

Illustration: Martin Ebner

MINITCHEV Display Neoangin, 7"
Fucky Label

NOCH EINMAL Musik aus Berlin und wieder Künstler, die Musik machen : Es geht um die jüngste Veröffentlichung des Fucky Labels Minitchev Display Neoangin, eine Vinyl - 7“ mit sieben Liedern von Neoangin, Display und Minitchev.

Kein Sampler, eher eine Split-Single. Neben Minitchev, bei denen Evelin singt und C.X.Huth und CeeBeeKGas mitmachen, steht hinter Neoangin der U-Künstler Jim Avignon. Display ist kein anderer als CebeeKgas, Künstler, Fotograf und Gitarrist bei Minitchev. Sein Lied auf der B-Seite ist die Überraschung der Single. Die Assoziation: New Order und Alphaville machen Wohnzimmermusik, der Gesang treibt Tränen.

Neoangin eröffnet die Single und wer gedacht hat, sein Beitrag zum ersten berlintokyo Sampler „Wilhelm Reich Biography“ war ein Glückstreffer, was das schreiben von „Hits“ betrifft, der wird hier eines Besseren belehrt. „Monkey Boy“ wird nicht zuletzt ob seiner subtilen lyrics (You gave me 300, but we said 500. We had a deal.) noch lange die Torstraße rauf und runter gespielt und von Galeristen und Nightclubbern auf dem Nachhauseweg gegröhlt werden. Avignons jüngste Veröffentlichung ist die CD „Musik für danach welcome to the sound of posthedonism“. 24 niedliche und unterhaltende Orgel-Minihits, mit denen er dem Easy Listening ein Genre hinzufügt.

SPIELKREIS 03

DER UNVERGLEICHLICHE Ölbildkünstler Lutz C. Pramann ist auch der Opener des zweiten Galerie berlintokyo- Samplers Spielkreis 03, der, eben erschienen, als CD und DoLP erhältlich ist.

Der „ursprünglich dokumentarische Ansatz“ des ersten Samplers, alle Bands, die je in der Galerie gespielt haben, dort aufzunehmen und auf Vinyl zu bringen, fällt hier weg, zugunsten einer „von uns getroffenen Auswahl“. Ist er dadurch homogener geworden? Klanglich? Inhaltlich? Wahrscheinlich schon. Ich habe das Gefühl, er ist mehr disco und easy, die stilistische Vielfalt des ersten Samplers ist aber auch hier zu finden. Und es gibt viel mehr Hits, erwähnt seien hierbei T.A.F.K.A.

„Milch“, Commercial Breakup und The Fusions, aber auch Mina und Penaten. Genauso meisterhaft, aber nicht so tanzbar ist ein einmaliger ElektroWaveMinimaltrack des JeansTeams, die sich mit diesem Beitrag als unberechenbar erweisen.

Kante aus Hamburg liefern ein wunderschönes von LouReed inspiriertes Liebeslied (Bob Dylan Coverversion). Die Looney Tunes, beste (und einzige?) Surf-Band Deutschlands überraschen durch ein superslowes MundharmonikaSeemannsSchunkelstückchen.

Stereo Total erfüllen dagegen die von ihnen gesetzte hohe Norm. Jeder Beitrag des Samplers ist künstlerisch und inhaltlich interessant.

Ein Sampler, den man wegen jedes einzelnen Liedes lieben wird. Ein Lebensgefühl. HighEnergy. Aufbruch.

Lebensfreude. Hedonismus. Gleichzeitig dokumentiert SPIELKREIS 03 die extrem hohe künstlerische Aktivität in und um die Galerie berlintokyo, Berlins bestem Musikclub, der immer wieder gut für interessante und durchgeknallte Ausstellungen ist. Der Sampler könnte auch einen musikgeschichtlichen Wendepunkt markieren: Die Ablöse Hamburgs als Musikhauptstadt, was nicht heißt, daß die neue Blumfeld langweilig oder schlecht sein wird, ganz im Gegenteil ...

MINA s / t
lok musik

LETZTES AUGENMERK gilt der postmodernen Fusionband Mina, die natürlich auch auf dem „Spielkreis 03“Sampler vertreten ist und neben Contriva, Jeans Team und PopTarts als beste Band Berlins gilt, das weiß nur noch keiner, außer vielleicht die Leute von Bungalow, die ihnen mit ihrer Maschine zu (inter)nationalem Ruhm verhelfen werden. Ihre erste MiniLP mit dem Titel „Mina“ ist raus und präsentiert vier Stücke mit einer Gesamtlänge von circa 22 Minuten. Wieso schreib ich „Fusionband“? Vielleicht deshalb: Viele ziehen den Vergleich zu Ennio Morricone, wenn sie Mina zum ersten Mal hören. Einer hat mal gesagt: Morricone trifft auf Whirlpool Productions.

Auch der Vergleich mit den Feelies geht in die richtige Richtung. Fakt ist, daß hier eine einmalige Mischung aus Filmsoundtrack, House und Jazz entstanden ist. Hypnotische spiralförmige Instrumentalepen mit Sogwirkung. Die GoaBand des Pop. Ihr Stil: Mina!

Starship 1: Just what is it that makes today's Berlin so different, so appealing?
  1. Editorial #1 Starship
  2. Moontrip Ulrich Heinke
  3. Und täglich grüßt das Murmeltier Ariane Müller
  4. Golfen Katja Eydel
  5. ...ein guter Satz aus Zufall, meinetwegen! Michaela Eichwald
  6. Letztens hat mir mein Freund U. Judith Hopf
  7. Joan Semmel, Sylvia Sleigh, Audrey Flack Antje Majewski
  8. Ein schönes und intelligentes Ambiente Stefan Römer
  9. The Terror Starship Florian Zeyfang
  10. Wer ruft das Off von außen ? Ariane Müller
  11. gentrifikation / nullpunkt / broken windows* Nicolas Siepen
  12. „Die Beute“ - Relaunch Sabeth Buchmann
  13. Woher man denn kommt Isabelle Graw
  14. SituationistInnen und andere ... Katrin Pesch
  15. Immer noch Jim Dines Mülleimer Gunter Reski
  16. Futura 2000 Axel John Wieder, Christian Flamm
  17. Der NINA TEMPEL und HUCKS HAUS Elke aus dem Moore
  18. Primärfarben anscheinend verboten Gunter Reski
  19. Todesenthusiasten Petra Langemeyer, Heike Munder
  20. May 98 Kyron Khosla
  21. Was, wenn es Wirklichkeit wird ? Elisabeth Hautmann
  22. Grammatik: Schwierigkeiten bei der Anwendung des besitzanzeigenden Genitivs Frank Frangenberg
  23. Das Ende Mussolinis Linda Bilda
  24. Nutzen & Co Gunter Reski
  25. Domination and the Everyday Ulrike Müller
  26. Gegen Grenzproduktion in der Festung Europa
  27. Radek Oleg Kireev
  28. Polonia Express Tibor Varnagy
  29. Flauberts frühe Fickgeschichten Fabian Reimann
  30. Aus Alzheimer Helena Huneke
  31. Hallo neues Vorbild Gunter Reski
  32. Einige Fragen beim Lesen von Henry James Francesca Drechsler
  33. 100 Jahre Merve Hans-Christian Dany, Peter Gente, Heidi Paris, Ulrich Dörrie
  34. Reise mit Fragezeichen zur Minus 96 ins Ahornblatt nach Berlin Barbara Schüttpelz, Stephan Dillemuth
  35. Ich fühle daß mein Glück Kerstin Kartscher
  36. Jeder Mensch, der ein Bier falten kann, ist ein Künstler Ran Huber
  37. knife under pillow Phil Smith
  38. what's in the pantry today ? Massimo Richter
  39. Stirbt der Mensch als Künstler Dany Müller
  40. Anmerkungen zu Henry Bond Starship
  41. You're next Cathy Skene
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