100 Jahre Merve

Gespräch zwischen

Ping Pong auf der Hochebene von Tibet

Diese Gespräch mit den HerausgeberInnen des Berliner Merve Verlags Peter Gente und Heidi Paris wurde von Hans-Christian Dany und Ulrich Dörrie geführt. Es erscheint hier als Vorabdruck.
Eine vollständige Fassung dieses Gespräches erscheint im Oktober dieses Jahres in dem Buch `dagegendabei´ (Edition Michael Kellner). Ausgehend von einer Dokumentation, der von Hilka Nordhausen betriebenen `BuchHandlung Welt´, versammelt der Band Gespräche, Texte, Dokumente zu Strategien der Selbstorganisation seit 1969.

Hans-Christian Dany: Eure Bücher waren für mich in den achtziger Jahren sehr wichtig. Auf die Politisierung am Anfang dieses Jahrzehnts habe ich dann stark reagiert und geriet in ziemliche Widersprüche. Zwar war das angelesene Wissen um die Problematik bestimmter politischer Formen da, aber damit ließ sich nur schwer, wenn überhaupt, auf die politischen und ökonomischen Zuspitzungen nach dem Zusammenbruch des Ostblocks reagieren. Mit welchem "neuen" Politikbegriff hätte auf die Pogrome in Rostock reagiert werden können?

Peter Gente: Wir machen Bücher, das ist zu zweit schon ziemlich viel Arbeit. Wir können darin nur Ansatzpunkte vorschlagen. Wir haben nach dem deutschen Herbst 1977 aufgehört und gesagt, wir streichen jetzt Marx, Freud und Hegel aus unserem Programm.

Mit Foucault, Deleuze, Baudrillard und Virilio sind wir dann in eine ganz andere Denktradition gesprungen, ohne deren Ursprünge genau zu exemplifizieren. Politisch ging es dabei um Désir und Mikropolitik.

Eigentlich ging es uns um eine neue Begrifflichkeit, das wurde uns aber erst später klar. Auf dieser Suche nach neuen Begrifflichkeiten haben wir uns von den politischen Revivals, wie dem Neo-Marxismus, weit entfernt. Ich kann diese Sachen heute größtenteils nicht mehr lesen, da mir die Begrifflichkeit nicht mehr benutzbar erscheint. Dafür haben wir zuviel darüber gemacht, daß Widersprüche zum Lachen sind. „Stufen des Humors" (Deleuze). Ich kann mit einer solchen ideologiekritischen Argumentation nichts mehr anfangen. Jedes Buch von Foucault ist eine Kritik der Ideologiekritik und was da heute gemacht wird, ist wieder irgendwelche Ideologiekritik.

Für mich ist die Chance einer neuen Politik zu allererst die Chance einer neuen Begrifflichkeit und einer neuen Sprache. Auch bei dem was in UndergroundKreisen oder in militanten Zusammenhängen praktiziert wird, kann ich kaum eine neue Qualität erkennen, die der ganzen Sache mehr Effizienz verschaffen könnte. Das, was im Moment als Repolitisierung gehandelt wird, kommt aus der akademischen Uni-Szene der USA.

Heidi Paris: Ich würde den Schnitt historisch anders ansetzen. Wir haben 88-89, bevor die Wende kam, mit Reclam-Ost einen Reader über neue Perspektiven gemacht. Das war auch der Versuch für die Ossis, diesen Umbruch anders zu denken. Also nicht zu sagen, wenn ich meinen Marxismus aufgebe, bin ich gleich rechts, sondern einen Alternativ-Ansatz zu entwickeln. Wenn man die Rezeption des Buches betrachtet, ist das auch sehr gut angenommen worden.

HCD: Wann würdest Du den Schnitt ansetzen?

HP: Früher, 85-86, da die Gärungsprozesse im Osten schon eine ganze Weile liefen. Wer dort Verwandte hatte, wußte eigentlich schon, daß es dort ökonomisch bergab ging. Wenn man ein historisches Datum setzen will, dann wäre das Tschernobyl gewesen.

HCD: Auch hier im Westen?

HP: Hier im Westen habe ich vieles als reine Karrierestrategie wahrgenommen.

Mit linker Politik macht man als Künstler immer noch am meisten Kohle.

Wenn man dagegen ist. Das ist die alte Geschichte der Rockkultur: Moral, schlechtes Gewissen. Wer ist noch käuflich.

HCD: Ich würde bis zu einem gewissen Punkt zustimmen, aber nicht die gesamte Bewegung, die sich damals gebildet hat, vom Tisch wischen.

Mit Baltasar Gracian, den Ihr letztes Jahr herausgegeben habt, kann ich für die Entwicklung eines neuen Politikbegriffs viel anfangen. Aber es geht doch auch um eine politische Praxis und die wird nicht nur mit Büchern gemacht.

PG: Das ist ein entscheidender Punkt. Althusser oder Foucault haben immer für sich in Anspruch genommen, daß ihre Theorie Praxis ist. Da ihre Texte andere Begrifflichkeiten produziert haben, war ihre Arbeit immer auch eine praktische Arbeit. Dieses alte TheoriePraxis Verhältnis haben sie nicht akzeptiert.

Das war immer die Antwort von Althusser, wir rekonstruieren den Marxismus, wir entwickeln ihn. Wir machen Bücher, das ist unsere Praxis.

HP: Außerdem, wo fokussiert man heutzutage Praxis? Ich würde sagen, Leute, die im Internet arbeiten oder im Umfeld der Technoszene Firmen gründen, machen irgendwie beides. Sie schaffen auch ihren eigenen Beruf. Sie stellen sich nicht hin und sagen, wir sind arbeitslos, sondern kreieren etwas in der Wirklichkeit.

HCD: Das Erfinden von Berufen, daran hat meine Generation ausgiebig mitgearbeitet. Was aber auch mit erfunden wurde, sind Vorläufermodelle für die neuesten Ausbeutungsstrategien. Diese Bastelberufe und -karrieren sind der Arbeitskraft, die das Kapital momentan braucht, einfach sehr adäquat.

PG: Ich denke aber, dieses eigensinnige, obsessive Arbeiten, das Erfinden von Lebensperspektiven, ist auch eine Art Kriegsmaschine. Eine, die nicht mit Panzern auffährt, sondern ein anderes Tun erfindet. Gerade solche undefinierbaren Ansätze scheinen mir perspektivisch.

HP: Nimm ein Buch wie `Postheroisches Management´ von Dirk Baecker.

Als Zwei-Mann -Verlag ohne Subventionen ist es relativ albern zu denken, daß wir was mit Management zu tun haben. Auf der anderen Seite ist es ein Beitrag zum Handeln. Genauso wie unser GracianBuch zielt es auf eine Handlungsfragestellung.

Das Baecker-Buch ist wahnsinnig gut angekommen, sei es bei Leuten, die sich mit der Erfindung von Biographien beschäftigen, aber auch bei Theatern, die keine finanziellen Mittel mehr haben und jetzt ihre gesamte Struk tur überarbeiten müssen.

Patchwork der Minderheiten oder Lachen war verpönt

Ulrich Dörrie: Könntet ihr einmal die Ursprünge des Verlages beschreiben.

PG: Der Verlag ist ein Produkt der Studentenbewegung. Es ging darum, eine theoretische Leerstelle auszumachen, nämlich Erfahrungen, die damals in Italien und Frankreich gemacht wurden und diese nach Deutschland zu übersetzen, um damit Dogmatisierungen, die sich hier etablierten, entgegenzusteuern.

Also diese ganzen Parteien, KPD/ML oder KBW und was es da alles so gab. Wobei ich sagen muß, daß wir mit der DDR und ihrer ganzen Welt nie etwas zu tun hatten. Ich bin in der DDR geboren und habe dort bis 53 gelebt und seitdem ist das für mich endgültig gegessen.

HP: Zur Gründungszeit des Verlages muß noch gesagt werden, daß da ein politisches Umfeld war, das sich sozusagen seine eigene Struktur kreiert hat. Das waren alles Studenten, die das Projekt aus der Taufe gehoben haben.

PG: Das waren sechs Leute. Meine damalige Frau, Merve, die inzwischen gestorben ist. Wolfgang Hagen, der heute Programmdirektor bei Radio Bremen ist. Sigrid Vagt, die heute Übersetzungen für Hanser und Wagenbach macht. Einer hatte eine Druckerei.

HP: Das Ganze ist in der Hinsicht ein typisches Phänomen, daß sich Gruppenstrukturen, wenn sie länger eng zusammenarbeiten, irgendwann aufbrauchen. In diesem Fall ist es positiv gelaufen, weil Spezialisierungen stattgefunden haben. Der eine hat das Drucken zu seinem Beruf gemacht, die andere das Übersetzen. Nach zwei Jahren sind die meisten rausgegangen.

HCD: Das hatte nichts mit Bruch oder Wechsel innerhalb des Verlagsprogramms zu tun? HP: Der Bruch wurde von mir um 74 in den Verlag getragen. Ich war damals noch Studentin, habe viel französische Theorie gelesen und dann in sehr intensiven Diskussionen mit Peter andere Denkstrukturen reingebracht, was sich später auch publizistisch auswirkte.

PG: Ich muß noch mal etwas zurückgehen. Der Verlag war anfangs ein Kollektiv. Alle waren gleichberechtigt, keiner hatte Geld. Wir haben ohne Geld angefangen, haben selbst gedruckt und vertrieben. Im ersten Jahr haben wir auch nichts verdient. Keiner der Beteiligten hatte zuvor in einem anderen Verlag gearbeitet. Es war also alles unsere Erfindung.

Wir beide kennen uns seit 1974 und seit 75/76 arbeiten wir zu zweit. Der Prozeß der Auflösung des Kollektivs war mehr eine biographische Geschichte: Einer Gruppe, einer Liebesbeziehung oder auch einer Ehe, die in die Brüche ging. Damit ging alles in die Brüche, weshalb man für Texte, wie Foucaults ` Wahnsinn und Gesellschaft´ oder Bataille sehr offen war. Man war richtig auf Sand gesetzt und hat angefangen von vorne zu buchstabieren, sich seine eigene Welttheorie neu zusammen zu bauen.

HP: Für mich war es theoretisch so, daß ich in dem Zeitraum 74 bis 77 auch schon zu der Generation gehörte, die an der Universität nur noch sturen Marxismus geboten bekam. Da gab es viel zu viele damals sogenannte "Nebenwidersprüche", die in dem Hauptwiderspruch Arbeit/Kapital nicht aufgingen. Das fing an mit der Frauenbewegung, den Schwulen, der Sponti-Bewegung, den Wohngemeinschaften und Landkommunen. Das kreative Potential brach aus dem marxistischen Diskurs raus, hat sich dann noch eine Zeitlang in der Sponti-Bewegung gesammelt, aber dann in Gruppenprozessen immer weiter diversifiziert. Da begann das "Patchwork der Minderheiten".

UD: Das war die Zeit der Kleinverlage, Ökoprodukte. Es wurde billig produziert, aber auch schon mit einem Bewußtsein für Design. Wie funktionierten damals Eure Distributionswege? HP: Am Anfang haben wir noch Büchertische gemacht, dann Fortsetzungsbestellungen über den Weg der Buchhandlungen. Das hieß von jedem neuen Text haben wir 800 Ausgaben verschickt.

Aber zu diesem Zeitpunkt existierte eben auch noch die Struktur des linken Buchhandels, die es heute kaum noch gibt. Heute werden wir stärker im Kunstbuchhandel rezipiert, während uns die Literaturbuchhandlungen selten führen.

HCD: Hat sich der inhaltliche Bruch in Eurem Programm schnell auf das Vertriebssystem ausgewirkt? HP: Ja. Wir sind auch massiv angefeindet worden. Die Struktur der linken Verlage gab es ja noch. Es gab auch reichlich Buchhandlungen, die abbestellt haben, so als wären wir die großen Verräter.

Da gab es über vier, fünf Jahre scharfe Kritik am Programm. Gleichzeitig gab es ein anderes Publikum, das froh war, endlich mal einen anderen Diskurs zu haben, das die eigenen Themen da eher besprochen fand. Das hat sich einfach umgeschichtet.

HCD: Mich würde doch noch einmal interessieren, inwieweit Tagespolitik, ich denke an die RAF und den `deutschen Herbst´, für die Veränderung im Verlagsprogramm eine Rolle gespielt hat. Oder war es vor allem die Entdeckung der französischen Theorie?

PG: Das hat ineinandergegriffen.

Wir haben von 76 bis 80 eine Gruppe gehabt. Im Verlauf dieser Zeit sind da so 60, 70 Leute durchgezogen und vielleicht sechs, sieben, acht, die bis zum Ende da waren. Wir haben uns einmal in der Woche in der Wohnung eines der Beteiligten getroffen und den `Anti-Ödipus ´ von Anfang bis Ende durchgelesen.

Wir waren nicht vorbereitet, es gab kein Protokoll, sondern wir lasen Satz für Satz fortlaufend in einem Buch. Daraus haben sich gute Freundschaften entwickelt.

Nach den Treffen sind wir ins Nachtleben gegangen, damals oft in den `Dschungel´. Haben viel geredet und vor allem gelacht. Das war damals in den Kneipen gar nicht so beliebt. Es herrschte eher so eine dröge Stimmung, alles war traurig und schlimm. Lachen war damals richtig verpönt. In der gleichen Zeit sind wir aber auch noch zu Demonstrationen gegangen und den Kongressen.

Als Ulrike Meinhof tot war, sind wir zur Beerdigung gefahren, haben auf der Straße gesessen. Und wir haben in Paris lange mit Foucault darüber diskutiert.

Wir hatten zu dem Umfeld einen Kontakt, aber eben gleichzeitig auch zur Punkbewegung, ins SO36 oder zu Kippenberger.

Es war eher die Musikbewegung, die uns interessiert hat. Leute wie Fetting und Oehlen, die kennen wir aus dem `Dschungel´. Kippenberger auch, und ich finde es grotesk, daß der jetzt, kurz vor seinem Tode, noch zum Maoisten gemacht wurde. Also das ist wirklich die Krone. Er war ein Macho, das könnte man ihm noch am ehesten unterstellen. Ich find ihn trotzdem gut. Wir haben ihn schon früh kennengelernt. Das hat auch einige gewundert, daß wir schon 80 mit ihm zu Gange waren. Der kam ja über Hamburg nach Berlin. Der hatte bei Hilka Nordhausen schon was gemacht und da gab es immer eine gemeinsame Ebene.

HP: Wir haben dann mit Kippenberger ein Buch gemacht, `Kippenbergers Frauen´, das bestand nur aus Fotos. Damals gab es noch sehr viele Frauenbuchhandlungen, bei denen wir auch überall Fortsetzungen hatten. Die haben das Buch samt und sonders zurückgeschickt und waren höchst beleidigt.

UD: Zu der Zeit habt ihr auch Zeitschriften "Schlau sein - dabei sein, "Solo", "Dry" und "Stop art") herausgegeben. Warum wurden die dann eingestellt?

HP: Das war eine Spielwiese. Ich wollte ein bißchen mit Layout und Design herumprobieren, hat auch Spaß gemacht und ist bei den Lesern gut angekommen.

Aber das Großformatige ging nicht in die Buchhandlungen.

HCD: Im Zusammenhang mit Kippenberger würde mich noch mal die Frage nach "neuen" Politikbegriffen interessieren. Leute wie Kippenberger und Oehlen haben an einem bestimmten Zeitpunkt festgefahrene Zeichenformationen durcheinander gebracht. Das hatte auch eine politische Dimension. Diese Störung hat sich aber schnell erschöpft.

PG: Ich würde einerseits eine gewisse Resignation in Anspruch nehmen. So wie wir uns das vorgestellt haben, ist es nicht gelaufen und konnte es vielleicht auch nicht. Zu dem hat sich, um so mehr wir im Bereich der Kunst unterwegs waren, eine Beschäftigung mit den einzelnen Autoren durchgesetzt. Dem Deleuze, dem Cage oder auch Foucault einfach zu folgen, das hat uns erstmal gereicht. Das hat uns Spaß gemacht, zu sehen, was sie Neues geschrieben haben und daraus Sachen zusammen zu stellen.

Dabei ging die Militanz verloren zugunsten eines Genießertums. Das kann man natürlich kritisieren, wenn man will.

Wir haben dann auch Sachen gemacht, wie Slavoj Zizeks `Liebe Dein Symptom wie Dich selbst´. Der ist in der Szene auch gut angekommen. Der ist aber, was meine Kenntnisse anbetrifft, gar nicht so wahnsinnig neu und gut. Der bringt nur bestimmte Lacan-Interpretationen popularisierter und macht die verständlicher, aber da gibt es keine neuen Erkenntnisse. Das bringt auch sehr viel obsolete, theoretische Sachen mit sich, die ich nicht so gut finde, gerade was den Ideologiebegriff anbetrifft.

Man kann dieses Desinteresse an der Politik auch als eine Form der Kritik sehen. Ich kann mit diesem Antifaschismusbegriff nichts anfangen. Diese Art und Weise darauf zu reagieren, finde ich einfach nicht gut. Und wir können keine aktuellen Bücher machen, weil wir zu der Aktualität keinen Zugang haben.

Wenn wir ein Buch machen, das sich auf die Tagespolitik bezieht, dann interessiert das niemand. Unsere Bücher haben eine lange Laufzeit und wirken auch nicht sofort, sondern erst nach Jahren.

Wir haben sehr viel Bücher, die anfangs gar nicht gelaufen sind und dann immer besser liefen, bis sie irgendwann vergriffen waren. Michel de Certeau, Die Kunst des Handelns lief erst überhaupt nicht und dann verkauften sich in einem Jahr 150, im nächsten waren es schon 250.

UD: Wie hoch sind Eure üblichen Auflagen?

PG: 2000, manchmal 3, manchmal 4000. Man kann ungefähr sagen, jedes zweite Buch hat auch eine zweite Auflage und jedes Dritte eine dritte Auflage.

Wir leben sehr stark von der Backlist.

Deleuze, Virilio und Foucault, von Foerster, Baudrillard, die laufen nach wie vor jedes Jahr sehr gut.

HCD: Nicht unproblematisch finde ich den Hype, der in den letzten Jahren um 1000 Plateaus´ entstanden ist. Mein Eindruck war, da wird was zu Tode gefeiert. Ein Wort wie Wunschmaschine ´ kann man nicht mehr hören, das ist zum Kitsch verkommen.

PG: Interessant ist doch, daß jetzt ein Tun beginnt, Leute versuchen damit zu arbeiten. Dadurch wird sich auch die Begrifflichkeit abschleifen und verändern. Ich denke, daß das erste Mal neue Horizonte aufgerissen hat und daß der Umgang damit auch sprachlich etwas anderes produzieren wird. Der Jargon, Wunschmaschine und so, hing einem schon Ende der siebziger Jahre zum Halse heraus.

UD: Ihr als Verleger, mit dieser Vorgeschichte, seid doch auch in einer recht machtvollen Position. Ihr könnt Diskurspolitik betreiben. Wenn ihr etwas Neues auf den Markt werft, hat das Wirkung.

HP: Ok, wenn man das Feuilleton ansieht, sieht man, daß man sich der Sache durchaus bedient. Worüber wir uns nicht so richtig klar sind ist, warum wir dabei nicht genannt werden.

UD: Spekuliert Ihr im Vorfeld von Veröffentlichungen darüber, was damit passieren wird?

HP: Was mich immer interessiert, ist, welche Szenen da andocken und das Phänomen, das wir im Moment haben ist, daß wir viele Einsätze haben. Auf der einen Seite sind wir auf der documenta, auf der anderen auf der Love-Parade.

Schon in unserem Bekanntenkreis ist es eher so, daß dieser breitgestreute Einsatz eher ungewöhnlich ist, da hat jeder sein Kästchen. Die einen sind in der Kunst-, die anderen in der Techno-Szene, die Dritten, was weiß ich was. Das is'n bißchen ein Problem. Auf der einen Seite ein Kräfteproblem, so ein breites Feld im Visier zu haben, auf der anderen, ist es manchmal noch schwer ablesbar, wo das Schiff lang läuft.

Das ist die Beschreibung eines Phänomens, es gibt verschiedene Szenen, in denen aktiv was gemacht wird und die kreuzen sich nicht mehr.Wir haben aber, was die Publikationen betrifft, überall ein Bein drin.

PG: Wichtig ist auch ein Buch von Baudrillard, der ja nun ein ziemlicher Irrläufer ist, aber gleichzeitig eine Art der Provokation hat, die einen sozusagen zum Denken zwingt. Das finde ich im Augenblick viel wichtiger und spannender, als eine Analyse neofaschistischer Tendenzen in der Jugend. Ich finde, da ist der Baudrillard einfach besser, auch wenn er oft provoziert und man seinen Thesen, wie, "der Golfkrieg findet nicht statt", auch nicht so ganz folgen kann.

Da hat er sich ziemlich verrannt, richtig vergaloppiert, was die Sache anbetrifft.

Aber im Prinzip finde ich das schon nötig, solche Sachen zu machen.

HCD: Baudrillard wurde damals ja ziemlich scharf angeschossen, mir gefiel, daß Ihr Euch davon scheinbar wenig habt irritieren lassen. Ähnlich ging mir das mit Eurem Jakob Taubes-Buch, Ad Carl Schmitt, Gegenstrebige Fügung.

Ein Buch, das mir überhaupt gut gefallen hat. Verstärkt wurde das zusätzlich durch die Carl Schmitt-Diskussion, die damals innerhalb der Linken stattfand, und die mir in ihrer Tendenz zur Tabuisierung problematisch schien. Reagiert Ihr auch auf solche Diskussionen oder überschneidet sich das eher zufällig?

HP: Das war eher zufällig. Der Taubes lag im Sterben und war der Lehrer von Peter. Und da der Taubes eigentlich nichts Schriftliches bis dato publiziert hatte, haben wir ihm das quasi als letztes Geschenk gemacht.

PG: Aber das war natürlich auch ein Politikum. Ich fand die Art, wie Taubes mit dem Schmitt umging, ziemlich gut. Ich habe zu dem Schmitt auch ein ambivalentes Verhältnis, weil ich ihn auf der einen Seite für einen großartigen Stilisten halte. Der kann wahnsinnig gut schreiben, besser als Heidegger und Jünger zusammen. Aber was er schreibt, ist eben sehr gefährlich. Ich kann das nicht akzeptieren, was er gemacht hat und wofür er plädiert.

HP: Man ist ja ein mündiger Bürger.

Erstmal muß man die Sachen kennen, bevor man was ausgrenzt und das ist natürlich ein publizistisches Prinzip. Auch wenn ich den Jünger nicht selber publizieren würde. Nachdem wir diesen Gesprächsband zu Carl Schmitt gemacht hatten, ging die Debatte los, ob wir denn auch Carl Schmitt selber publizieren wollten. Aber das wollte ich nicht. Den würde ich selber nicht machen. In der Kombination als Gespräch legt man es zur Diskussion auf den Tisch, aber weiter würde es bei mir dann publizistisch nicht gehen.

HCD: Zu diesem Zeitpunkt war es m.E. interessant, Schmitts Theorie der Partisanen zu lesen, da diese die Verschiebung der politischen Begrifflichkeiten und deren Auflösung aus einer bestimmten Perspektive beleuchtete.

HP: Hat die RAF-Linke auch gelesen.

HCD: Schon, aber das war eher in den 70ern, Anfang der 90er durfte man Schmitt in vielen linken Zusammenhängen nicht mal zitieren. Oder überhaupt den Namen erwähnen, ohne vorher eine Viertelstunde lang zu betonen, ich spreche jetzt über einen Faschisten.

PG: Klar war unser Verhalten auch eine bewußte Reaktion auf so etwas. Man hat den Schmitt wirklich zu einem Poète maudit, einem verfemten Autor gemacht. Dadurch war er umso einflußreicher.

Auch dadurch, daß man ihn nicht zitieren durfte. Da wollten wir mit der guten Art, mit der der Taubes damit umgeht, mal dazwischenfunken. Ich denke schon politisch und strategisch, aber nicht tagespolitisch, da ich weder bei den Grünen noch der SPD einen theoretischen oder kulturellen Horizont sehe. Das ist der Punkt. Und solange da nichts ist, kommt auch von unserer Seite nichts. Wir sind da alte Schule, in dem Sinne, daß wir Theorien produzieren wollen, die neu sind.

Nightlife-Kontakte

HCD: An der Liste der "NightlifeKontakte" finde ich interessant, daß das alles Leute waren, die man im allgemeinen als Künstler bezeichnen würde, auch wenn die sich alle immer in Grenzbereichen herumgetrieben haben. Deren Bücher bei Euch unterscheiden sich ja auch. Oder auch das Buch von Minus Delta T´, Das Bangkok-Projekt´, das ich sehr gelungen finde, und das vermutlich auch einem Nightlife-Kontakt entstammt. Die sind schon anders gemacht, als meinetwegen Eure Lyotard-Bände.

Sie sind auch eher der kleinere Teil in Eurem Programm. Was waren die Kriterien für Eure Künstlerauswahl?

PG: Das Gewachsensein spielt sicherlich eine Rolle. Das Gewachsensein bedeutet aber auch, daß man ziemlich lange schaut, ob da was dran ist.

Oder, wie vielschichtig ist das, hat das auch mehr Bestand als die nächsten zwei Jahre? HCD: Was heißt ziemlich lange schauen bei einem Buch, wieGeniale Dilletanten´? Der Herausgeber, Wolfgang Müller, muß damals ungefähr 22 Jahre alt gewesen sein, viel zu schauen gab es da noch nicht. Das WestbamBuch erschien bei Euch viel zu spät, was mir gut gefiel. Minus Delta T´ waren, als sie bei Euch erschienen, noch höchst frisch.

HP: Mir ging es da um etwas anderes, nicht so sehr dieses "zu früh oder zu spät". Sondern bestimmte Genres von Buch. Nehmen wir meinetwegen das Westbam-Buch. Es gibt kein Buch auf dem Markt von einem DJ, der sozusagen sein Machertum thematisiert. Die Bände von Minus Delta T´ oder Geniale Dilletanten ´, die sind in der Art und Weise der Zusammenstellung schwerlich noch als Bücher zu bezeichnen.

PG: Wolfgang Max Faust kam auch ganz früh bei uns an und hat unsere Bücher über Paul Maenz an seine `Mühlheimer Freiheit´ verteilt. Er hat einen Text über die Transavantgarde geschrieben, in dem er so ziemlich unser gesamtes Verlagsprogramm verarbeitet hat. Ein Zitat, rauf und runter.

HP: Der wollte dann auch bei uns ein Buch machen, als die Wilden so richtig Startposition hatten. Das haben wir aber nicht gemacht, da wir nicht in so einen Hauptstrom geraten wollten.

Wo man dann erst gefeiert wird und dann wird man abgefeiert. Und da haben wir nein gesagt, obwohl wir Faust auch schon jahrelang kannten.

PG: Wir haben dann aber Bonito Oliva (Im Labyrinth der Kunst´, Eingebildete Dialoge´) herausgegeben, um sozusagen den Erfinder dieser Transavantgarde im Programm zu haben.

Damit man auch mal den Unterschied sieht zu der Art, wie Max Faust das anging. In der Hinsicht meine ich auch, daß das immer strategisch ist. Wir wollten nicht unter diesem Label `Neue Wilde´ erscheinen, das hätten wir spielend gekonnt, aber genau das wollten wir vermeiden.

HCD: Hat sich Euch nicht auch ab und zu bei der Rezeption im Kunstbetrieb der Magen umgedreht. Ich finde es gerade bei der Rezeption Baudrillards in den achtziger Jahren unangenehm, wie da die Begriffe verwässert werden. Wie aus der `Agonie des Realen´ deren Potenzierung wird. Wie habt ihr darauf reagiert? HP: Manches, was an Rezeption passiert, blendet man einfach bewußt aus. Da reagiert man eben gar nicht.

Publizistisch ist es so, wir wollen nicht reagieren, sondern was Neues aufmachen und dann kucken, was da andockt.

UD: Eher wie beim Tennis den Ball aufschlagen?

HP: Ping-Pong auf der Hochebene von Tibet. Lieber so.

PG: Uns ging es auch darum, das, was man global als "Franzosen" versteht, sozusagen fortzuführen, weil das keine Sache ist, die nur zu einem bestimmten Zeitpunkt Gültigkeit hat. Wenn wir uns zwischenzeitlich zu anderen Szenen bewegen, wie der Diskussion um die Second- Order-Kybernetik, die neuen Technologien, geht es uns auch darum, bei unserer Leserschaft etwas Verwirrung zu erzeugen und eben keinen neuen Schmortopf für eine Szene herzurichten.

Also jemand, wie Niklas Luhmann , der immer von Anschlußfähigkeit redet, ist selber gar nicht so anschlußfähig. Das sind auch strategische Interessen, so theoretische Stränge aufzunehmen, um damit experimentelle Dinge zu probieren und zu kucken, wie weit kommt man.

HCD: Dieses Springen wurde aber auch immer wieder als Kritik an Euch heran getragen. Eine weitere Kritik, die damit verbunden ist, war die, daß Ihr fast nur Fragmente veröffentlicht habt, was bei Deleuze oder anderen Eurer Autoren eigentlich eine innere Logik hat.

HP: Anfangs war das einfach ein ökonomisches Problem, da wir einfach nicht die Rechte für vollständige Bücher einkaufen konnten. Aber wenn wir gesagt haben, wir stellen ein kleines Bändchen zusammen, waren die Autoren eben einverstanden. Ein anderer Punkt ist, das ist ein anderes Genre von Buch als das geschlossene Werk und manchmal sagt ein Autor in einem kleinen Vorwort oder Interview auch schärfere oder prägnantere Sachen. Das spielt auch eine Rolle.

PG: Ich finde diese Kritik auch nicht angemessen. Wir stehen nicht in einer deutschen Vollständigkeitstradition oder so einem Historismus, wo man bei jedem Text erklären muß, wo der herkommt. Das ist eine Kritik, die kenne ich schon seit 1970. Wir stehen für Fragment und auch für "Werkzeugkiste". Das steht in unseren Büchern drin und das ist durch die Theorien, die wir publizieren, voll abgedeckt.

Das ist eine Kritik, die einfach nicht sieht, was wir machen. Die kommt von ganz woanders her. Adorno würde sagen, Standpunktkritik.

UD: Die ganzen Wissenschaftler haben da ihre eigenen Spielregeln und wenn man die nicht beachtet, dann sind die eben sauer. Mich erinnert Euer Vorgehen eher an Kochkunst.

HP: Vielleicht auch Komposition.

Ich schätze auch die kleinen Bände und das damit verbundene Leseverhalten.

Die schaffe ich an einem Abend, während ich für dicke Schinken eine ganze Woche brauche. Die Komposition eines Themas in Aufsatzform verschafft auch wechselnde Blickpunkte.

Bei den kleinen Bändchen geht es auch um die Erfindung eines Buches.

Unsere Foucault- oder Lyotard- Bände gibt es in der Form und Zusammenstellung nicht im Französischen.

UD: Ihr macht das immer noch zu zweit. Ökonomisch ist das jetzt aber auf der sicheren Seite?

PG: Heidi hat im Moment eine Gastprofessur in Kassel, das ist entlastend. Ansonsten läuft das total low budget.Also ganz bescheiden. Wir machen dann nebenher mal was für die Ars Electronica ´ oder den Steirischen Herbst´, also hier und da mal ein bißchen Geld nebenher verdienen.

UD: Aber es gibt doch auch Abonnenten und dauerhaft Abhängige?

HP: Nö, ich habe jetzt so seit 75-76 schätzungsweise die dritte Generation, die unser Programm liest. Dabei fällt immer wieder auf, wenn die Biographien ein bißchen fortschreiten, die Leute irgendwo einen festen Sitz haben, läßt auch das Leseinteresse nach.

Die Vielleser sind hauptsächlich Leute, die in offenen biographischen Feldern arbeiten und im weitesten Sinne Macher, die das dann auch für sich weiter verarbeiten.

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