Plundered

Über addiktiven Umgang mit musikalischem Material - Gary Todd“s Label „organ of corti“

Über addiktiven Umgang mit musikalischem Material - Gary Todd“s Label „organ of corti“

23852 Pacific Coast Highway #419; Topanga Beach; Gary Todd“s organ of Corti Studio. You are there. Now. Lucky. 1992 von Gary Todd gegründet, möchte die Corti-Stiftung 1die Kenntnisse über Musikerfinder dieses Jahrhunderts, speziell die der 60er Jahre, erweitern. Dazu dient die Bewahrung von Archiven zusammen mit der Veröffentlichung von zum Teil unbekanntem Material. Viele dieser Aufnahmen haben die musikalische Entwicklung des 20. Jahrhunderts redefiniert 1. Und dabei haben sie - während sie in die sogenannte „ernste“, in der Tradition des Komponierens stehende Musik ausstrahlten - auch einen Weg in das als populär charakterisierte Fach gefunden, wenn sie nicht sogar Vorläufer der stattfindenden Auflösung dieser Trennung waren.

Die catchy CD, die einen zum Cortical Fan machen kann, ist relativ untypisch für das restliche Programm: 21967, im November, performte Terry Riley ein nächtelanges Konzert in Philadelphia unter dem Namen Poppy Nogood - eher Spitzname denn Pseudonym. Riley improvisierte von zehn Uhr abends bis zum Sonnenaufgang auf Sopransaxophon und mit Tonbandloops. Man hatte den Besuchern nahegelegt, Schlafsäcke mitzubringen und die Nacht zu bleiben. Einer der Anwesenden führte eine Disco in der Gegend und beauftragte Riley damit, ein „Thema“ speziell für den Club zu komponieren. Das Ergebnis ist ein zwanzigminütiges langes Stück, betitelt „You“re Nogood“, nach dem in einem Mix aus Moog, Loops und Feedbacksystem geplünderten, appropriierten, relativ unbedeutenden Rythm&Blues Song gleichen Namens 2.

Bereits die andere CD im Nogood-Pack transportiert die HörerIn wieder in die gewohnte Rileywelt. All night flight Poppy Nogood. Die Doppel-CD aus dem Hause organ of Corti, dem Label der Cortical Foundation, ist eine Erstveröffentlichung. Terry Riley war die erste Veröfentlichung von organ of Corti, Gary Todd hat sich damit zu so etwas wie dem Verwalter des unbekannten Archivs des Experimentalisten gemacht. Das beschriebene „You“re Nogood“ ist für die anderen, deutlich minimalistischen Kompositionen Rileys, zwar in der Herangehensweise, nicht aber im Ergebnis stellvertretend: Es stammt aus der Zeit, als Riley entdeckte, was die von seinen tape loops erzeugten Wiederholungen, über relativ lange Intervalle benutzt, mit der musikalischen Form machen konnten - übrigens fast ein Jahrzehnt, bevor Robert Fripp seine ähnlich konstruierten FripperTronic zur Anwendung brachte. Die ersten fünf Corti-CDs sind zum Teil ebenfalls Premieren aus Rileys Regalen oder Wiederveröffentlichungen von vergriffenem Material. „Music for the Gift“, „Red Streams“, „Olson III“. Ich bestimme RAUM (SPACE) als den zentralen Faktor für Alle in Amerika Geborenen, und ich buchstabiere es groß, denn RAUM kommt gross hier in diesem Land. Gross und gnadenlos 3.

Zeichnungen oder Collagen von Riley-Freund Bruce Connor, der sich wie der Komponist mit Drogen und anderen weiten Wüsten beschäftigt hatte, zieren die ersten CD-Cover. Die Bedeutung dieser Künstlerikone der Westküste wurde nach Jahren relativer Unterschätzung gerade in einer Retrospektive des MOCA in Los Angeles wieder hervorgehoben. Besonders sein Umgang mit Film in den 50er Jahren wird als einflussreich auf spätere Kunstfilm-Avantgardisten erachtet. „A Movie“ von 1958 ist vielleicht eine der ersten Found-Footage-Kompilationen (und damit formal Rileys „Nogood“ verwandt). Die Zusammenarbeit mit Todd fand ein jähes Ende, als dieser aus Versehen eine von Connors minutiösen, völlig gleichmäßige und ohne erkennbares Objekt mit Strichen gefüllte, eigentlich non-but-THC-relationalen-all-over-Filzstiftzeichnungen „über Kopf“ druckte. Eine Einigung war wegen hoher Geldforderungen nur vor Gericht zu erreichen. Nach Riley wurde bei Corti selten Gehörtes von Derek Bailey, John Cage, Pandith Pran Nath und anderen Musikern der 60er Jahre veröffentlicht. Dann die Kompositionen Nitschs: Gary Todd hat die Minimal-Musik des österreichischen Aktionskünstlers schon lange verfolgt und schließlich 1998 eines der 6-Tage-Spiele des „Orgien Mysterien Theaters“ aufgenommen. In diesem Zeitraum arbeiten sich bekannter- und skandalträchtigerweise Nitsch sowie andere Künstler, Schauspieler und Musiker durch alle möglichen christlichen und unchristlichen Religionspraktiken und -musiken, wobei auch Panzer und Tierschlachtungen eine Rolle spielen. Der fünfte Tag wurde auf neun CDs verteilt veröffentlicht; aber es gibt auch eine LP: Todd hat dem Künstler Cortis erste Bildplatte gewidmet, auf welcher Mitspieler von Tierblut überströmt paradieren, Arm in Arm wie Rugby-Spieler, die sich die Köpfe eingeschlagen haben. Wer, unberührt oder abgestoßen vom Spiel mit der Mystik, nie daran dachte, Nitschs Aufführungen zu besuchen, ist von dieser Aufnahme fasziniert, wenn er sie in dem Umfeld der Corti-Musikwelt wahrnimmt. Doch es gehört zu Todds Standards, zum Zuhören aufzufordern, anstatt mit dem üblichen kulturellen Vorwissen dem Klang das zu nehmen, was dessen Charakter ist: Unmittelbarkeit.

Minimal sind Nitschs Kompositionen allerdings schon lange nicht mehr; eher trifft einen der maximale Impakt, wenn sich über den ganzen Tag verteilt verschiedenste Kapellen und Chöre in unterschiedlichsten Musikstilen betätigen. Das Vorgehen des Aktionisten und seiner MitstreiterInnen trifft sich mit dem archivarischen Vorgehen von Todd. 4 Alle möglichen religiösen Praktiken werden hier Klang: das Opfer, die ekstatische Verausgabung, die Meditation, die Verzückung. Eben alles, was als Religion nervt und als Musik unschlagbar bleibt.

Den Mysterienaufnahmen folgten Veröffentlichungen von Intersystems und der Nihilism Spasm Band, später von Le Forte Four oder den Doo-Dooettes. Die beiden letzteren Formationen entsprangen der von organ of Corti bereits mit einer elf CD starken Box geehrten Los Angeles Free Music Society („Lowest Form of Music“, corti 11). Die Kompilation besteht zwar hauptsächlich aus Werken der Kernmitglieder, doch eine der primärer Funktionen von LAFMS war, sich über eine Ausdehnung der Aktivitäten in eine Art magnetischen Kunst-Sumpf für Noise-Freaks zu verwandeln. Weil die Society physikalisch lokalisierbar war und die Ergüsse ihrer Gesellschafter ausführlich dokumentierte, zog die LAFMS unzufriedene Weirdos an - wie Doughnuts fette Polizisten 5.

Die Strategien der LAFMS waren so subtil wie pragmatisch: So hatte man sich beispielsweise Ende der 70er entschieden, einen Sampler verschiedener KünstlerInnen zusammenzustellen. Jede Combo konnte dabei für $2 fünfzehn Sekunden Sound beisteuern und bekam am Ende für jede der fünfzehn Sekunden ein Exemplar des Longplayers. Das Ergebnis war technisch von solch qualitativer Bandbreite, dass man Volume Zwei nur noch in Mono realisieren konnte; wobei allerdings die Master-Aufnahmen für beide LP-Seiten kurz darauf verloren gingen und man auf eine Kassette zurückgreifen musste. Das Ergebnis ist ein kalifornischer Mix aus Soundbits, Country, Noise und Samples; darüber die Gitarre - 6übles irres, faszinierendes Künstlerkackezeugs 6.

Den „magnetischen Kunstsumpf“ möchte Gary Todd in den 90er Jahren reanimieren. Die Cortical Foundation lud 1998 zum Festival BEYOND THE PINK, während dem die MusikerInnen der 60er oder ihre Werke mit ihren Nachfolgern genauso wie mit KünstlerInnen der letzten Jahrzehnte zusammengeführt wurden. Arbeiten von Cage, Kagel, Schneemann, La Monte Young und Yves Klein trafen auf Werke von Allan Kaprow, Emmett Williams, Joan Jonas, Mike Kelley, Stephen Prina und Paul McCarthy. Charlemagne Palestine führte in der Hollywood Methodist Church sein Orgelstück „Schlongo!!! daLUVdrone“ wieder auf, dokumentiert in einer weiteren Corti-CD. Zum erstenmal hatte er das aus einem über die Dauer von zwei Stunden nur langsam variierende, nie unterbrochene Orgelcluster 1970 in Los Angeles gespielt, und zwar dreimal die Woche. 7 Leute lagen in totaler Dunkelheit auf dem Boden und groovten zu diesem Sound. Es war die Zeit der Hippies Gurus Bewusstsein erweiternden Drogen Blumenkinder. Liebe Liebe Liebe, bis das Stück im schnellen Fade abbricht.

Auf corti 24 kann man Stephen Prinas wohlklingender Stimme lauschen, wie sie vor dem Hintergrund eines Kammerorchesters mit Englischhorn intoniert. Todd hat 1999 die Aufnahmen zu Prinas Film „Vinyl II“, begleitet, der zur Ausstellung „Departures: 11 Artists at the Getty“ in eben diesem Museum gedreht worden war. Dabei hatte Prina, Konzeptkünstler und Komponist in Los Angeles, den bildnerischen Werken von Georges de La Tour („Rauferei der Musiker“, 1625-30) und Gerrit van Honthorst („Mit Dornen gekrönter Christus“, 1620) seine aus atonalen Elementen und poppigen Versatzstücken bestehende Komposition zur Seite gestellt. Obwohl fast identisch, sind drei der eingespielten Takes dokumentiert; die letzte davon wurde für den Film verwandt: wieder die CD als Archiv.

Auch wenn Gary Todd nicht alle seine Projekte mit der gleichen Emphase verfolgt, ist die Cortical Foundation und das Label organ of Corti selbst eine Art individualisiertes, aktives Kleinarchiv, welches der Sammler der Öffentlichkeit zugänglich gemacht hat. Todds eigener addiktiver Umgang mit den musikalischen Materialien lässt die HörerInnen zu Corti-Aficionados werden; und natürlich sind, wie fast alle wahren Sammlerobjekte, auch die Corti-Produktionen rar und in der Anzahl überschaubar. Eine Tatsache, die das Label durch seine Veröffentlichungspolitik unterstützt. Diese etwas undemokratische Vorgehensweise ergibt sich einerseits aus dem Wunsch nach Distinktion; andererseits würde die Foundation ohne „Sammlerpreise“ nicht parallel zum Massenmarkt bestehen können. Doch 8weil man das Meiste des dort angesammelten Materials bislang kaum gehört hat, bietet das Label seine eigenen Falltüren zu einer ganz speziellen Minimal-Kunst-Musikwelt. You are there. Now. Lucky<a name=8a href=#8b>8</a>.

Notes

1 Nach dem offiziellen Text der Cortical Foundation

2 Nach dem Klappentext der CD, corti 5 Terry Riley „You“re Nogood“ (plundered r&b with moog and loops, for a disco 1967-68)

3 Charles Olson, Call Me Ishmael, 1947

4 Diedrich Diederichsen, Klingende Religionsstunden, in: Der Tagespiegel, Berlin, 14.10.2000

5 Aus: Forever Expanding Internal Horizons, Byron Coley, 1994, <a href=http://www.cortical.org>www.cortical.org</a>

6 email von CD-Leihgeber, anonymisiert

7 Charlemagne Palestine, Klappentext corti 23

8 Frei nach: Byron Coley, 1994</notes>

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