aus: Performance im Rialto

Annette Wehrmann

Ich schwebe sozusagen auf einem von draußen in mein Zimmer einfallenden Pegel von Menschengeräuschen– ein Lärmpegel, der zunehmend unerträglicher wird und schwerer zu ignorieren. Johlen und Tuten und Geschrei und über allem diese Megafonstimme – einfach nicht länger zu ignorieren. Also öffne ich meine schlafverklebten Augen und finde mich dem Fenster zugewandt liegen. Das ist aber die falsche Seite zum Aufstehen. Augenschließen, Herumwälzen, Aufstehen. Ich öffne die Augen und sehe das Fenster. Der Vorgang wiederholt sich noch einige Male und … ich werde panisch. All dieses imaginäre Herumgewälze fühlt sich subjektiv sehr echt an, und ich führe dieses subjektiv echte Gewälze immer heftiger aus, öffne die Augen und sehe das Fenster. Im jetzt unzweifelhaften Wachzustand ist es mir allerdings nicht so einsichtig, wieso das Herumgewälze unbedingt bei geschlossenen Augen zu geschehen hat. In meinem Bett im imaginären Wälzen begriffen, hege ich aber allerlei Befürchtungen: schwere Unterzuckerung? Das wäre untypisch. Trotzdem taste ich geschlossenen Auges neben meinem Bett nach dem Traubenzucker, der dort immer ausgewickelt bereitliegt für eventuelle Vorfälle. Der Traubenzucker ist etwas staubflusig, was mich von seiner Realität überzeugt. Im Mund hat er diese Traubenzuckerkonsistenz, die eben Traubenzucker hat. Ist ein bisschen glasig und kalkig wie Traubenzucker, der ausgewickelt einige Zeit neben dem Bett gelegen hat. Also, das ist normal – etwas weniger süß als üblich, genau genommen deutlich weniger süß. Ist das noch normal? Ich öffne die Augen und sehe das Fenster – also war es doch der imaginäre Traubenzucker. Ich ziehe meinen, unter Kopf und Kissen eingeklemmten, schmerzenden rechten Arm hervor, offenen Auges. In meinem Blickfeld bewegt sich nichts. Aber beim nächsten Mal. Ich betrachte meinen Arm und er hat Druckstellen vom Kopfkissen und den Haaren, sieht aber okay aus. Er fühlt sich okay an, ich fühl mich okay an. Ich stehe auf und messe meinen Blutzucker. Alles okay! Also, raus auf die Straße, immer den Geräuschen nach. Dort tauche ich in die Menschenmenge ein … bei Sonnenschein und fettigen Würstchenbudengerüchen. Etwa hundert Meter von meinem Haus entfernt, befindet sich die Zielgerade eines Marathonlaufs. Die Sportsfreunde tuten auf ihren kleinen Tröten und schwenken kleine Fähnchen. Ich drängle mich bis zur Zielgeraden durch und schaue den einlaufenden Athleten und Athletinnen zu, schreie mit den Sportsfreundinnen, habe aber keine Tute und kein Fähnchen.

Klarer sonniger Tag, macht gute Laune. Im portugiesischen Stehkaffee geschrieben: Die Welt scheidet sich bekanntlich in Galao-Sager und Nicht-Galao-Sager. Ich bin Galao-Sager. Die abgewetzte Leopardenimitatfellmütze des Herrn neben mir, das Rattern der Kasse und die billige Popmusik aus dem Radio, ein Marlboro-Werbeträgerauto vor der Tür und im Marlboro-Werbeträgerauto drin eine lila Milka Kuh – das ist es: Ich liebe billige Popmusik! Und Bus gefahren bin ich auch wieder, das war aber eher unheimlich. Überhaupt bin ich der Meinung, dass Überlandbusse die wahren unheimlichen Orte der Neuzeit sind. Wenn es sich gerüchteweise so verhält, dass Geisteranhalter und Geisteranhalterinnen zu übernächtigten Autofahrern in den Wagen steigen, so passierte mir das tendenziell in Überlandbussen. Momente des Übergangs zwischen Traum und Wachen, zwischen zwei Orten. Im Bus dösen und im Augenblick des Aufwachens entsetzt sein über den Umstand jetzt wieder in ein Leben hineinzuschlüpfen, in eine funktionale Persönlichkeit und deren gesammelte Erkenntnisse und Erfahrungen. Nichts Festes und nichts Definitives, sondern eine Perspektive auf die Dinge, meine Perspektive. Aber meine Position erscheint mir so absurd, so fragwürdig. Wie lässt sich auf dieser Grundlage Gewissheit erlangen, wie daraus Erkenntnis ableiten, wie Künstlerin sein? Und dann wachte ich auf und war wieder drin in meinem Perspektivkegel – ohne Distanz zu meiner Absurdität. Aber der Generalverdacht ist mir geblieben. Oder auch nicht. Und wie soll ich jetzt auf dieser Grundlage Künstlerin sein?

Im Aufnahmestudio saßen wir um den Resopaltisch herum, tranken Wodka und kifften. Das ist nicht erlaubt, dort zu trinken und zu kiffen, taten wir aber trotzdem. N. sprach von ihrem Kieferbruch. I., N. und H. machten die Musik, das heißt, vorwiegend I. machte Musik. H., N. und ich saßen um den Tisch herum, unterhielten uns über den Fahrradunfall mit Kieferbruch und anschließendem Krankenhausaufenthalt von N. Ab und zu sprang eine von uns auf und aschte aus dem Fenster. Ob wir schockiert seien, wollte N. wissen. „Na ja, nicht direkt schockiert“, sagte ich, „aber ich empfinde das so körperlich, aber in meinen Beinen. Und ich verstehe das nicht, was meine Beine mit deinem Kiefer zu tun haben. Ich finde es immer noch merkwürdig. Ein sonderbarer Körperteil für mitfühlende Reaktionen, die Beine“. Ja, sie kenne das Gefühl, sagte N., ein Ziehen über die Knie weg … vermutlich, was man weiche Knie nennt. Ein fieses Gefühl, ja ja.

Randvolle Tasse, vibrierender Milchschaum, blubb, im Rhythmus der Schreibbewegungen … das Schülerquälwort: ein h oder zwei? Rhythmus nämlich. Dann rief H. bei mir an und wünschte sich/schenkte mir allerlei Glaskolben und so Gebilde, wie man sie für chemische Versuchsanordnungen und Wasserpfeifen braucht. Diese Gebilde entsprachen leeren Gedanken, geistigen Komplexen ohne Inhalt. Vielleicht hat H. auch gar nicht gewünscht oder geschenkt, sondern gesagt: „Sie sagte ‚Glaskolben und chemische Versuchsanordnungen, leere Gedanken’“. – An einem Tisch sitzen und über den gestrigen, außer Haus verbrachten Abend reden. Beim Sprechen stürzen dir Nacht, Regen, Mond und Neonlicht, die Kneipen mit ihrem Inventar, Barfrauen, Bierflaschen, Gedränge, Lärm, Musik und Small Talk aus dem Mund und füllen die Räumlichkeiten bis zum Bersten. An einen Baum denken und schon sprengt dir die Buche den Kopf … weit mehr als das, wenn ich mir das Größenverhältnis zwischen meinem Kopf und einer Buche, die groß genug ist, dass sie unter „Baum“ firmieren kann, einmal veranschauliche. Von meinem Leben befreites eigenes Leben, das nicht mein Leben ist, ist das Eigene. Das ist ein Kurzmanifest, aber der Sinn ist mir entfallen.

Halluzinierte Skulptur bei J.: ein Foto zwischen J.s Kram. Aber natürlich war es nicht da, kein Farbfoto einer langweiligen formalistischen Skulptur In The White Cube mit weitergehender metaphorischer Bedeutung. Auf dem Weg zurück: Regenschlieren an der Fensterscheibe. Vor mir sitzen zwei Chinesen und kauen ständig. Die digitale Uhr leuchtet und blinkt aufdringlich vor sich hin und geht ganz falsch und das ist bezeichnend. Wofür es bezeichnend ist oder sein soll, ist allerdings nicht so klar. Ich döse und meine Gedanken verhäkeln sich wie die Regenschlieren an der Scheibe … von den Regenfluten weggespült, Regenmassen, Regenstrukturen, fließendes Zeug, Häkelwasser, Wasser, das senkrecht vom Himmel fällt wie eine Betondecke auf das Land drauf mit einem schweren Schwapp wie ein umstürzender Putzeimer. J. gebeugt in der Ecke unter der Kellertreppe, Platte auflegend, ganz eingenischt und diese Nische ganz ausfüllend. Komische Bilder verknäulen sich. Dann und wann taucht aus dem Dunkel ein vom Scheinwerfer bestrahltes altes Fabrikgebäude auf, schwimmt auf der Oberfläche der Schwärze – eine komische Skulptur.

Nachts, ich bin müde. Dabei sollte ich froh sein. Eher bin ich erleichtert. Nicht wirklich erleichtert, aber dann doch, weil ich Struktur in meinem Leben zu entdecken glaube. Das ist ein Pinguinschnabel, der sich reckt und grau bestäubt ist – staubfarben. Meine Spielzeugsammlung. Denken, Träumen, Geschichten, wie auch immer. Dummerweise ist da dieser Schmerz im Kopf beim Denken, unangenehme Doppelzeit in mich verspiegelt. Beobachte also dieses blöde selbsttätige Denken in meinem Kopf beim Blödes-Zeug-Denken. Und das ist dummes Zeug, was ein Gedanke ist, was beides Gedanken sind, natürlich. Noch ein paar Rückkopplungen mehr und so weiter …

Es ist morgens um sechs und ich habe die Nacht durchgewacht, gelesen. Auf Radio FSK spielt beruhigende Musik. Gestern „Katamalaise“, Spaziergang mit B. an der Elbe, kitschige Fotos gemacht und über weiße Hunde gesprochen. „Die sind viel niedlicher als andere, die dunklen Augen mit dem weißen Fell. Sie sehen aus wie Robbenbabys.“ Und, dass weiße Hunde modern seien, sagte sie. „Wenn ich mir so einen überzüchteten Hund anschaffen wollte, dann einen Dalmatiner, weil die komischerweise einen guten Charakter haben.“ Mit den Gedanken war ich natürlich ganz woanders. Zumindest hoffe ich das … ich war, wo war ich denn mit den Gedanken? Betäubt, denke ich, noch vom vorherigen Tag. Himmel blau, Sonne schien und es war sehr kalt. Wir gingen immer am Elbufer entlang und plauderten verlogen und belanglos. Es war ganz nett, also trostlos. Sie unternahm nichts dagegen, dass ich sie fotografierte, obwohl sie es nicht mochte. Und ich hütete mich im Gegenzug die Oberfläche irgendwie anzukratzen. Sie dachte vielleicht genauso … vielleicht auch nicht. Möglicherweise ist es ja das, was sie unter einem angenehm verbrachten Nachmittag versteht. Das halte ich aber nicht für wahrscheinlich. Ich stoße jedoch immer nur auf Geschäftsfrauenattitüde oder leicht abgedriftete Verschwörungstheorien, wenn es denn nicht gerade um überzüchtete Robbenbabys von gutem Charakter geht. Vielleicht hat sie ja noch eine andere private Identität, irgendwo, keine Ahnung … ich weiß ja auch nicht, wie mit ihr reden. Wir kehrten also irgendwo ein, und ich erlitt einen „Katamalaise“-bedingten Zusammenbruch.

Ein Foto hält die Situation fest: B. schaut etwas genervt und auch besorgt, ganz die große Schwester eben. Von meinem Teller grinste mich der fette Pfannkuchen an: maliziös! Wieder zu Hause verkroch ich mich ins Bett und schlief bis Mitternacht. Dann stand ich auf, aß etwas, stellte das Radio an und las einen Science-Fiction-Roman. Joanna Russ' „We who are about to …“ ist eine Magnum-Paperback-Ausgabe aus den 70er Jahren. Auf dem Cover reitet eine Frau in Bikini und kniehohen Stiefeln rücklings auf einem phallischen Gerät, halb Motorrad, halb Waffe, in Kadmiumgelb und Grautönen auf die fernen Berge zielend. Inhaltsangabe: Schiffbrüchige eines von einer multidimensionalen Explosion zerstörten Raumschiffes verschlägt es auf einen öden Planeten in unbekanntem Raumgebiet. Die Umstände dieser multidimensionalen Explosion bringen es mit sich, dass die Überlebenden von jeder möglichen Rettung abgeschnitten sind. Das Gros der Acht flüchtet sich angesichts dieser misslichen Umstände in wahnhafte Durchhalteparolen und kolonisatorische Gründungsfantasien. Ach ja, die Personen … das ist eine merkwürdige Ansammlung von repräsentativen Karikaturen: die Barfrau, der Sporttrottel, der mittelmäßige Intellektuelle, die „Would-be“-Geheimagentin, die Millionärsfamilie und die Icherzählerin. Die Icherzählerin ist eine ehemalige Radikale, die Rückblick auf eine Revolte hält, die einige Ähnlichkeit mit den Ereignissen von 1968 hat. Also, natürlich ist dies Science-Fiction und der Schauplatz ist die ferne Zukunft und Ähnlichkeiten sind vielleicht zufällig. Die detailliert beschriebene Architektur, in der diese Ereignisse platziert sind, ist aber sehr psychedelisch, auf alle Fälle den Vorstellungen der Drogenkonsumenten der Gegenkultur, wenn auch nicht unbedingt den vorherrschenden architektonischen Strömungen dieser Zeit gerecht werdend. Auf dem öden abgeschiedenen Planeten aber, der die Realitätsebene dieses Romans ist –

dieser Planet ist so abgelegen, dass es noch nicht einmal Sterne am Himmel gibt – formieren die Überlebenden sich zur Notgemeinschaft und fantasieren die Kolonisation einer jungfräulichen Welt. Die Icherzählerin hasst diese Gemeinschaft, in die sie hineingezwungen werden soll. Die Alternative ihrer Wahl wäre ein frei gewähltes Todesfasten, Freitod eben. Den möchte die Notgemeinschaft ihr um jeden Preis verwehren, sie darüber hinaus noch zum Kinderkriegen zwingen. Folglich bringt die Icherzählerin alle, die sich zwischen sie und ihre Freiheit zum Tode stellen wollen, also alle anderen, um. Das letzte Drittel des Buches ist dann mit Hungerfantasien, Halluzinationen, Gewissenserforschungen gefüllt – mit einer ausführlichen Erörterung dieser Position. Ganz am Ende steht dann natürlich Point Zero, das ließ sich ja wohl auch nicht vermeiden.

16. 06. 1999 Regentag: D. spült seine Tasse aus, schenkt sich Tee ein. Vom interstellaren Handel geträumt. Die Menschheit ist in den interstellaren Handel mit den Aliens eingetreten, aber nur ein irdisches Produkt erweist sich auf diesem Markt als konkurrenzfähig. Na, welches wohl? Richtig: Schokolade. Weltraumschokoladenhandel, Handelswege, die wichtigsten Märkte.

Neulich habe ich einen japanischen Monsterfilm von 1964 gesehen. Die Frauen in dem Film waren allesamt Botinnen, Medien, eine war Fernsehreporterin, die andere – eine verfolgte Prinzessin – wurde von einer Stimme aus einem brennenden Flugzeug gerettet. Danach war sie eine Männerkleider tragende, besessene Prophetin. Sie übermittelte eine Botschaft der Venusbewohner: eine Warnung vor dem Monster aus dem All. Danach noch zwei Zwillingszwergenpriesterinnen, die in einer Pralinéschachtel lebten und stets synchron sprachen oder sangen. Priesterinnen einer Riesenraupe und Dolmetscherinnen zwischen Menschen und Monstern. Die Männer waren nicht so glamourös. Außerdem die immer wieder ins Bild gesetzten großen Menschenmassen, zu Gruppen aller Art formierte Menschen. Beachten sie bitte die bunten Strickpullover der Wissenschaftler im Camp! Schreiend bunte Strickpullis mit folkloristischen Details. Der Boss trägt ein kompliziertes, blaugraues Hirschdesign auf hellem Grund. Sein Stellvertreter trägt riesige blaubraungrün gestreifte Hirsche vor knallrotem Grund. Dann gibt's noch einen sehr aparten, auffälligen Ringelpulli und so weiter … die röhrenden Hirsche, die Monster … Auftritt eines Flugsauriers aus einem Vulkan, ein dreiköpfiger goldener Drache aus einem Kometen …

Godzilla kommt aus dem Meer und die Riesenraupe, das Supermottenbaby, kommt von der Zwerginneninsel. Dort wird es kultisch verehrt, in feierlicher Zeremonie synchron und elegisch besungen. Am Ende des Films versammeln sich alle zur großen Monsterschlacht. Großes Plastilinchaos: Streichholzbrücken krachen, bedrohlich blinken die roten Glühbirnenaugen der Mottenlarve, die Sperrholzhochhäuser bersten, die Plastikmonster bewerfen sich mit Plastiksteinen. Sie gucken sehr lieb-böse, brüllen, fauchen, zischen. Das Riesenmottenbaby zirpt ganz allerliebst, dazwischen wieder Bilder rennender, schreiender Menschenmassen. Das Riesenmottenbaby klammert sich an den Schwänzen der anderen Monster an und lässt sich herumziehen. Das ist nicht gerade unbeschreiblich. Es ist reichlich blöd und lässt sich deshalb gut beschreiben.

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