ETC.

Noch etwas zu erledigen und danach noch etwas und dann noch etwas Anderes, bevor es Abend wird, sich keine weiteren Emails mehr am Bildschirm ansammeln, die als "nicht gelesen" markiert sind, und kein Anrufbeantworter uns mehr mitteilt, wir hätten weitere neue Nachrichten, Hauptmenü, um Ihre Nachrichten zu hören … etcetera. Cetera ist ein lateinisches Wort, Gefangener eines Ausdrucks, der noch heute uns den Aufwand erspart, etwas zu sagen oder zu schreiben, das gehört oder gelesen zu werden keine Zeit finden wird. Cetera waren die, die blieben, waren ganz einfach die anderen.

Die Gruppe Etcetera… hat sich mit der Wahl dieses Namens den Zustand des vernachlässigten Anderen als Ausgangspunkt gewählt, einer speziellen Form der Abwesenheit und der passenden Reaktion, die sie begleitet und bannt. Dieses Wort ersetzt die Dinge, die wir uns vorstellen ohne sie benennen zu müssen. Aber was wirklich stellen wir uns vor? Oft die Abfolge einer Liste und wir sollten uns hier vielleicht daran erinnern, dass diese Listen keine unschuldigen Werkzeuge sind, denn wenn sie nicht erschöpfend sind, ändern sie den Sinn, und wenn sie heterogene Elemente beinhalten, erscheinen sie als Anomalie.

Ecetera bedeutet das, was verschwinden kann, ohne dass sich jemand darum sorgt. Die Gruppe, die sich entschieden hat, diesen Namen anzunehmen, entstand 1997 in einem Land, in dem das Verschwinden eine üble Geschichte hat. Sie entstand in Buenos Aires in Argentinien, auf den Straßen und sie schließt seit ihren Anfängen an das an, was im öffentlichen Raum passiert, an das Bühne des Kampfes und an die Auseinandersetzungen um Sichtbarkeit.

Jeder Donnerstag ist anders, ist einzigartig. Bei jedem Marsch setzen wir das Leben unserer Kinder fort (…) Eine verzweifelte Leidenschaft ist immer in meinem Herzen, eine, die dreißigtausend fantastische, einzigartige, wunderbare junge Menschen hütet, die ihr Leben für die Menschen hier gegeben haben, für ein besseres, gerechteres und solidarisches Land.

Argentinien - Dreißig Jahre der "Mütter", Hebe De Bonafini, Il Manifesto, 7 Mai 2007

H.I.J.O.S. heißt auf Spanisch Kinder, jemandes Söhne und Töchter, aber es ist auch die Bezeichnung der Gruppe Hijos de la Identitad y la Justicia contra el Olvido y el Silencio. Etcetera … schließt sich ihnen bei Aktionen auf der Straße an, die den Sinn haben, das Gedächtnis an die, die beseitigt worden sind, aufrechtzuerhalten. An mögliche Väter, mögliche Mütter, Geschichten über das Leben und den Kampf, die von den Ford Falcons der Diktatur, ohne eine Spur zu hinterlassen, verschluckt worden sind. Die, die gegen die Verwüstungen der Wirklichkeit protestierten, die das politische Verschwinden erzeugte, verschwanden ebenfalls.

Diese repressive Strategie mit primitivem und brutalem Antlitz hat verschiedene Störungen hervorgerufen, von der das Verschwinden der Trauer bloß die am häufigsten publizierte ist. Nicht zu wissen, was mit jemandem geschehen ist, heißt auch nicht mehr an die eigene Geschichte zu glauben. Die, die bei einer Aufzählung fehlen, fehlen zuerst in uns, und sie fehlen in ihren Häusern und an allen Orten, die sie gern besucht haben.

Übrig zu bleiben heißt, zum Warten verurteilt zu sein und zur Angst, von der die Mütter der Plaza de Mayo sagen, dass sie einem Gefängnis ohne Gitterstäbe gleicht.

Und es ist nicht nur das Vergessen der Vernichtung, obwohl es integraler Teil ist, das die Performances der Escraches* aufrufen. Das sind weder die leeren Stellen des Gedächtnisses, noch das Fehlen des Mutes, aber das Paradoxon einer verminderten Existenz durch die Indifferenz gegenüber den Massenmördern.

Die Generäle, die Ärzte, die kleinen Eichmanns, kleine aushöhlbare Clowns, die Terror gesät haben, die Kinder der Dissidenten gestohlen haben, Menschen ins Meer geworfen haben, gefoltert und geängstigt haben, die Körper und Hoffnungen raubten, leben jetzt bei Euch um die Ecke. Das ist eines der Dinge, die die Escraches sagen. Damit legen sie sowohl eine Geopolitik des erstickten Schmerzes an, wie eine spiritistische Psychogeografie. Der schweigende Ort, der theatralische leere Raum der Gräuel und der Stille, die auf sie gefolgt ist, kann zur Ausgangsbasis einer wahreren Aufführung werden, als das vorherrschende Vergessen. Auf einer imaginären Brücke zwischen unserem amnesiebehafteten beschwichtigenden Heute und gelebten Kämpfen, deren Spuren man beseitigt hat, demonstrieren die Escraches, damit die Vergangenheit zeigt, was von der Zukunft sie verbirgt.

Fäulnis, schimmelige Krümel der intellektuellen Bedürfnisanstalten, Dummköpfe, der Gestank eurer eigenen Verwesung soll euch in den Kopf steigen, weil ihr euch dazu verirrt habt, einem Situationisten vorzuschlagen, etwas für die letzte eurer kleinen Schmierereien beizutragen. Ihr seid die Versager in zwanzig Jahren Elend und Lügen. Wir kennen euch, Schweine.

Absagebrief von Raoul Vaneigem gegenüber dem Angebot an den Aktivitäten der Schriftstellergewerkschaft teilzunehmen, Les démarcheurs abusifs, Internationale Situationniste n°12, September 1969

Die politische Kunst hat einen schlechten Ruf bei den Militanten unserer Breiten, mit dem Argument, dass sie zur individuellen Beschwichtigung des moralischen Widerspruchs beim Künstler und zu einer unentschuldbaren Kompromittierung beiträgt. Im symbolischen Feld zu bleiben, wenn es um den Kampf geht, ihm sein Gewicht zu nehmen, um daraus ein Werk zu machen, das wird als kriminelle Handlung gesehen und als ethisch verwerflich. Wenn sich Engagement in die Arbeit verlagert, heißt es, es verließe die Person, es zeigt sich nicht mehr in der Bewegung, es unterhält das System, das es bekämpfen möchte und verwendet die Negativität als Brennstoff, und es leitet die zerstörerische Maschine des Kapitals auf eigentlich unbefleckte Gebiete. Die Avantgarden schreien, man müsse es zurückholen. Im Namen der Bilder und weil man die Sache "beschmutzen würde", denn ihr einen intellektuellen und ästhetischen Mehrwert zu geben, heißt, sie auf den globalen Markt zu werfen.

Diese bei den tüchtigen Mächten der Einschränkung wohlbekannte Analyse reift häufig im Dunst der Metropolen und in Fällen spärlich bewaffneter Konflikte. In Ländern, wo die Gewalt ihre behandschuhte Hand ohne Schonung an die Körper der Rebellen legt, wird sie nicht mit der selben elitistischen und moralisierenden Virulenz vorgetragen. Dann stellen sich radikalere und weniger folkloristische Fragen. Wenn man uns verschwinden lässt, wie können wir mit den Phantomgliedern denken, die wir noch sind? Wie kann man dem Rest des sozialen Körpers, den Stachel oder den Schmerz unserer Abwesenheit spüren machen? Wie kann man den beschäftigten Menschen, die uns auf der Straße vermuten, den irreparablen Verlust begreiflich machen, den jeder Tag der Vertiefung der sozialen Spaltung, der Repression und der Kriminalisierung jeder Revolte, vollzieht.

Etcetera… hat mit der Beschwörung von dem was unsichtbar gemacht worden war, mit Hilfe eines "künstlerischen Formats" geantwortet, dem einzig gangbaren Weg, dem einzig noch offensiven, dort wo alles oder fast alles fehlt.

Mehr Metonymie als Metapher, begleiten die Gente Armada, die Holzsilhouetten, die Demonstranten als nachgemachte Repräsentanten der Gruppen der Menschen, die fehlen. Sie machen eine Zahl, sie erinnern an die, die fehlen, aber nicht notwendigerweise genau an die, nach denen uns die Erinnerung zerreißt, denn diese Abwesenden sind zum Teil imaginär, Genossen, die aus einer Art Grauzone kommen. Diese bewaffnete Gruppe, eine optische Illusion, ungefähr lebensgroß, hat in ihrer gefährlichen Uneindeutigkeit über Bushs Reiseweg durch Argentinien gewacht, genau so, wie sie es über die Besucher von Galerien und Museen tun. Als Gesichter von beunruhigender Fremdheit, Gestalten, die wir aus der Intimität des Fernsehens wiedererkennen, sind sie Bewohner eines unsicheren Terrains, das sich zwischen der Kunst und dem Kampf erstreckt. Bewaffnete Menschen und dennoch wie Zielscheiben, lateinamerikanische Eltern der Figuren von Cady Noland, durchlöchert und unter Stoffen erstickt.

Ist das Kunst? Ist das Politik? Wir wissen es nicht, und wir wissen nichts von dem, was wir eigentlich wissen sollten.

Etcétera… TV

In den Performances, die vor den Häusern der Folterer und Mörder der Diktatur, durchgeführt werden, wird den Passanten alles ohne jegliche Information oder Gegen-Information geboten. Falls in den Performances Geschichte vorkommt, ist es eine halluzinierte Geschichte, die den Albträumen der Repression entkommen ist.

Argentinien spielt gegen Argentinien Fußball, in einem Match, das grausig an das erinnert, das Agamben in: Was von Auschwitz blieb beschrieb. Es ist nicht sosehr der Moment, an dem die SS und das Sonderkommando spielen, der darin zutiefst grauenvoll ist, denn er könnte ja auch wie ein spielerischer Augenblick erscheinen, kaum geeignet die Tötungsmaschine zu beleuchten. Das was unerträglich ist, ist, dass dieses Spiel in allen Stadien der Welt immer wieder gespielt wird, Land gegen Land, Stadt gegen Stadt, in den Sprachen des kriegerischen Nationalismus, im blutigen Vergessen des globalen Fernsehens.

Die Clowns, die von Nauman, vorbei an Kubrick, bis Fassbinder, die Botschafter der verdrängten politischen Gewalt sind, tragen Wahrheiten hierhin, die man sich kaum dunkler vorstellen kann und wiederholen die albtraumartige Komödie, der niemand zuhören möchte. Wenn man die nicht betrauern kann, deren Tod nie festgestellt wurde, kann man die Tragik-Komödie einer Alltäglichkeit voller ungesühnter Verbrechen wiederaufführen. Und anstatt den Lauf der Zeit der Post-Repression zu akzeptieren, in der man aus Angst, dass sich etwas wiederholt, was nicht wieder gut zu machen wäre, überhaupt nicht mehr reagiert, geben uns die Escraches ihr Versprechen: Wir werden immer wiederkommen.

Und Kapitän, haben Sie gut gegessen?
- Ganz gut, mein Herr, bis auf die Schreisse
- Was! Die Schreisse war nicht schlecht

A. Jarry, König Ubu

Als Protagonisten, denen die Pataphysik der Welt bewusst ist, regiert von den einem nach dem anderen demokratisch gewählten Pere Ubus, tauschen die Mitglieder von Etcetera… den Heroismus im Gewand der Avantgarde mit dem Errorismus, der völligen Verweigerung der Vorbildlichkeit.

Nach dem Ende der Mobilisierung von 2001 verwandelte sich Etcetera… in die Erroristische Internationale, um die hermeneutischen Kräfte der Verwirrung und die existentielle Notwendigkeit unwahrscheinlicher Allianzen herauszuarbeiten. Was noch subversiv ist, ist die Profanisierung, das Lachen, der Körper, das, was durch die Propaganda der Medien ohne Unterlass aufgeschaukelt und gleichzeitig geknebelt wird.

El Merdiazo, die Aktion, bei der hunderte anonyme Menschen auf einen Aufruf während der Geldentwertung reagierten und Säcke, die mit Scheiße gefüllt waren, vor den Türen der Banken ablegten, löste eine wütende Freude bei den Beteiligten aus. Die Scheiße war genauso eine Art den hungernden und ausgebeuteten Körper der Armen sichtbar zu machen, wie eine Repräsentation des Gelds selbst. Es war das Nicht-Gesagte einer politischen Krise, die im privaten Verhöhnt-Werden des Einzelnen zu erleben war, die durch das Ausstellen von einer großen Menge Scheiße dargestellt und gemeinsam geteilt wurde. "Ich scheiße aufs System" schrieen die Leute auf der Straße, Etcetera … machte aus diesem Slogan eine kathartische Aktion.

Der Hunger im Zeitalter immaterieller Kommunikation und virtueller Realität (h@mbre, f@im) bleibt, genauso wie der Schlaf und der Traum, ein nicht-eliminierbares Residuum des Materialismus. Die Wiederholung, die die organischen Funktionen charakterisiert, agiert, verkleidet, hier als Zündkapsel und als Aktivator subversiver Energie. Man lacht über die Katastrophe, aber man lacht, um sich der Resignation darüber zu entziehen, zuzulassen, wie sich das Leben der Ausgeschlossenen in Scheiße verwandelt.

Dort, wo das Ergreifen der Waffen das Verschwinden der Aufständischen nach sich gezogen hat und dort, wo die Kornkammer der Welt in Länder verwandelt wurde, in denen das Geld nichts wert ist, stellt man sich die Frage wirklich, welche Waffen zu ergreifen sind, oder man macht sich neue. Zweidimensionale Mitraillettgewehre aus gemaltem Holz, Skulpturen aus unessbaren Broten und indiskrete Fragen an Künstler und Militante, an Aktivisten und Zuschauer. Was sich daraufhin auftut, ist die Frage nach dem Gefecht, wo es stattfinden wird, wie und mit wem.

"Welchen Zusammenhang gibt es", fragt sich Deleuze - "zwischen dem Kampf der Menschen und dem Kunstwerk? Den engsten und für mich den undurchsichtigsten Zusammenhang. Genau das, was Paul Klee sagen wollte, als er sagte: 'Wissen Sie, das Volk fehlt.'

Das Volk fehlt und zugleich fehlt es nicht. Das Volk fehlt, das heißt, jene grundlegende Affinität zwischen einem Kunstwerk und einem Volk, das noch nicht existiert, ist nicht klar und wird niemals klar sein. Es gibt kein Kunstwerk, das sich nicht auf ein Volk berufen würde, das noch nicht existiert..."

* Grupo de Arte Callejero begann gemeinsam mit H.I.J.O.S. Ende der 90er Jahre die Escraches gegen frühere Mitglieder der Diktatur, die für die Entführung, Folter und das Verschwinden dissidenter Menschen verantwortlich waren. Escrachar ist ein Slangwort für: etwas öffentlich machen oder etwas aufdecken.

Paris, April 2008

aus dem Französischen übersetzt von STARSHIP

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