O alter Duft aus Märchenzeit

Durchhalten oder Verhandeln?

O alter Duft aus Märchenzeit
Diese Zeile aus Schönbergs op. 21, dem Pierrot lunaire, findet sich in Ingeborg Bachmanns "Malina", mit den Noten für den Sprechgesang im Text abgedruckt. In die Handlung ist eine mythische Erzählung über die "Prinzessin von Kagran", oder Chagre, Chageran, eingewoben. Zur Zeit der Völkerwanderung begegnet die Prinzessin einem Fremden, der sein Gesicht verhüllt hat und sie zweimal rettet. Sie sprechen zueinander. "Die Prinzessin und der Fremde begannen zu reden, wie von alters her, und wenn einer redete, lächelte der andere. Sie sagten sich Helles und Dunkles ..." Sie sieht in die Zukunft und sagt, "Ich weiß, wir werden einander wiedersehen ... es wird mehr als zwanzig Jahrhunderte später sein, sprechen wirst du wie die Menschen: Geliebte ... es wird dann Zeit sein, dass du kommst und mich küsst". Sie bezeichnet die Begegnung, den Ort, die Blume - Türkenbund lilium martagon, röter als rot - , an denen sie erkennen werden, dass sie am richtigen Ort sind.

So malt sich die Erzählerin den Hintergrund zu ihrer Liebesgeschichte mit Ivan aus, den sie vor einer Blumenhandlung im "Ungargassenland", Wien 3., gesehen und sich sofort in ihn verliebt hat. Die Möglichkeit der Reise durch Raum und Zeit befreit von der soziokulturellen Entwicklung eines Menschen, von der Gewordenheit und Einordbarkeit. Ein solcher Mensch, der unser Geliebter, unsere Geliebte ist und immer war, kann in jeder Gestalt erscheinen. Alle trennenden Umstände werden zu Nebensächlichkeiten, sind getilgt. Es gibt eine innere Wahrheit, eine ursächliche Zusammengehörigkeit; beim Wiederfinden erkennt man einander auf den ersten Blick, denn es gibt eine gemeinsame wenn auch vergessene Geschichte.

Diese Konstruktion nährt ihre Hoffnung, und sie ersehnt Ivans Zuwendung, glaubt, dass ein Annäherungsprozess stattfände. Aber Ivan ist ein trockener, kalter Kerl, der sie nicht versteht, sie demütigt und herabsetzt. Als sie das zu erkennen beginnen muss - schmerzhaft - stürzt sie in einen Abgrund, der in den folgenden Traumsequenzen ihre Geschichte ("das ist der Friedhof der namenlosen Töchter") blosslegt.

Es gibt ja dieses plötzliche Ereignis der unerklärlichen Anziehung, die schneller als der Schall auf uns einfällt Dem turn-on, dem kick (wichtigstes feature der Porno-Industrie); der Erregung nachgeben und in die Bredouille geraten, oder verzichten, die Energie umleiten? Sublimieren, Neurosen aufbauen, die Sexualität befreien, ausleben - Freud bezeichnet die Kultur als Ausbeuterin der Sexualität, denn aus der vom Triebverzicht umgeleiteten Sublimierungsenergie entstünden die Errungenschaften von Wissenschaft und Kunst.

Dido war ein patenter Kerl, eine hochintelligente und sogar schlaue Person, die aus einer Stierhaut das große Karthago schuf. Später, nach dem Tode ihres geliebten Gatten, wollte sie fernerhin auf Liebe (und vermutlich Sex) verzichten, nie wieder heiraten, und mit ihrem Volke in ihrem Staat gemeinsam glücklich sein.

Leider wurde Aeneas an ihre Gestade gespült, sie verliebte sich Hals über Kopf bis über beide Ohren - (Junos Sohn, der Liebesgott Amor, hauchte ihr, als Aeneas' Sohn verkleidet auf ihrem Schoße sitzend, das heimliche Feuer und betörende Gift der Liebe ein) - und starb wenig später an gebrochenem Herzen. Denn Aeneas wurde ja noch weitergeschickt, um Rom zu gründen, die ewig rötliche Stadt, während Dido in einer g-moll-Klage, einer Passacaglia über einem chromatisch absteigenden Baß in den Armen ihrer Hofdame zugrundegeht.

Als Verhinderer dieser grossen Liebe sehen wir die Götter und Göttinnen walten (bei Purcell: Hexen). So soll der Mensch denken und Gott lenken, und da haben sich zwei schön neurotische Personen gefunden, die sich selbst und einander ihr Begehren mit allen Mitteln versagen.

Sich-Verlieben hat mit dem Großhirn oft nichts zu tun, das sich aber immer in den Mittelpunkt rückt (es ist ja auch direkt hinter der Stirn, wo wir unser "Ich" vermuten). Denn mit dem Großhirn glauben wir, die Sache in den Griff zu kriegen, dabei ist es doch der jüngste Gehirnteil, eigentlich ein Baby, das sich erst mausern muss - und in dieser Entwicklung von den Babies zu verantwortungsvollen, sexuell erfüllten Erwachsenen kann beim Menschen viel schief laufen, und entwickeln sich die Neurosen, oder auch Psychosen.

Rund zweitausend Jahre nach Vergil und zur Abwechslung in d-moll beklagt Dido, kein Engel und keine Liebeskummerspezialistin, "my lover's gone, I know this kiss will be his last, the tune upon his lips has passed. I sing alone, while I watch the ocean, my lover's gone, no earthly ships will ever bring him home again, bring him home again", die ganze Platte eine saubere Trauer-Arbeit, so muss sie nicht an der unglücklichen Liebe sterben, sie ist ja auch nicht im mythischen Karthago, sondern in einem heutigen Inselstaat, wo sich leicht in die Musikindustrie sublimieren lässt.

Von der Männerseite drängelt sich jetzt Don Giovanni dazu, der letztlich an der Hand des steinernen Komturen zu den eisigen Höhen auf- oder zum ewigen Strafgericht absteigt. Obwohl Don Giovanni die ganze Oper hindurch nicht richtig zum Zug kommt und ja auch schon etwas älter ist, ein Beau nach seiner besten Zeit, gilt er als Sinnbild für den erotischen, anti-monogamen Mann mit einem stattlichen, nach Ländern aufgelisteten Register an Liebesabenteuern ("Madamina, il catalogo é questo ."). Auch vor Meuchelmord schreckt er nicht zurück. "Bereue" - "Repenti te" - ersucht ihn der Steinerne Gast, von markerschütternden Posaunenakkorden begleitet, an deren seherischer Todesdunkelheit sich die gesamte musikalische Romantik abgearbeitet hat. Wie meistens bei Mozart ist übrigens auch in der "Oper aller Opern" der Tenor eine ziemlich lächerliche Figur in seiner treu liebenden Hingegebenheit - Don Ottavio versteht das "Volare" seiner Verlobten Anna einfach nicht . (die Rache! Weil der Verführer ihren Vater ermordet hat UND die Selbstkasteiung, da sie den maskierten Eindringling eigentlich ziemlich sexy fand - jetzt will sie sich die Liebe ihres Verlobten erstmal für eine Zeitlang versagen).

Auch Donna Anna ist auf einen turn-on-trigger hereingefallen, irgendein alter Gehirnteil ist auf den schäbigen Verführer angesprungen, und das narzisstisch-autoritäre Großhirn muss das wieder mit Rache und Verzicht unterdrücken - große Oper.

Die inneren, alten Hirnteile, wo wir atmen, uns fürchten und blitzartig "fall in love", sind so unberechenbar, dass wir ihre chemischen Reaktionen gerne als etwas von aussen betrachten, die Liebe ist also eine Droge, und wird ganz einfach eingenommen oder ins Glas gemischt, oder in den Strudel gebacken. Dann ist sie plötzlich da und erzeugt Verlangen - volare, Begehren, the want in your blue eyes, the need in me.

Bryan Ferry widmet sich der Suche nach dieser Droge eingehend in einem Lied, das wir von Grace Jones besser finden. Er fährt also mit dem Auto zu einer Singles-Bar, alles ganz einfach: "I say go She say yes, dim the lights, you can guess the rest", und ab ins Bett oder aber nur bis zum "back seat", oder zur Couch.

Auf der Couch liegen wir dann und warum nicht gegen ein paar Kröten alles erzählen, was uns so einfällt aus dem autorit ären Großhirn, und das werfen wir der Analyse hin, endlos werden Metaebenen eingefügt, so wird es schon gehen.

Hidschra ist der Auszug des Propheten Mohammed und seiner Anhänger(Innen?) von Mekka nach Medina, in kleinen unauffälligen Gruppen, die islamische Zeitrechnung beginnt hier, im September 622. Hejira ist auch ein Album von Joni Mitchell. Sie zieht aus, um die Freeways entlangzudriften, "travelling in some vehicle, sitting in some cafe", quer durch die USA. "All I really want to do right now is: find another lover. ...to know what I was seeing in the refuge of the roads, in this hitcher, in this prisoner of the fine white lines, of the white lines on the free, free way"

Und Freud liest: "... lebt der Mensch der Vorzeit ungeändert in unserem Unbewussten fort. Was wir unser Unbewusstes heißen, die tiefsten, aus Triebregungen bestehenden Schichten unserer Seele, kennt nichts Negatives, keine Verneinung, Gegensätze fallen in ihm zusammen" ..."

O alter Duft aus Märchenzeit
Berauschest wieder meine Sinne!
Ein närrisch Heer von Schelmerein
Durchwirrt die leichte Luft.

Ein glückhaft Wünschen macht mich froh
Nach Freuden, die ich lang verachtet:
O alter Duft aus Märchenzeit,
Berauschest wieder mich!

All meinen Unmut gab ich preis,
Aus meinem sonnumrahmten Fenster
Beschau ich frei die liebe Welt
Und träum hinaus in selge Weiten…
O alter Duft - aus Märchenzeit!

Dreimal sieben Gedichte aus Albert Girauds Pierrot lunaire, Deutsch von Otto Erich Hartleben
Aus der Partitur zu Arnold Schönberg. Universal Edition UE 5336. 2002
Sigmund Freud, Das Unbehagen in der Kultur - Zeitgemäßes über Krieg und Tod. Fischer Taschenbuchverlag 1994
Ingeborg Bachmann. Malina. Suhrkamp Verlag 1971, 2006
Rudi Paret. Mohammed und der Koran. Kohlhammer 1957, 1991
Kurt Honolka. Der grosse Readers Digest Opernführer. 1966
Gustav Schwab. Sagen des klassischen Altertums. Insel Verlag 1932, 2001

Dido, No Angel, Arista Records 1999
More Than This. The Best of Bryan Ferry + Roxy Music, Virgin Records 1995
Joni Mitchell, Hejira, Elektra / Asylum Records 1976

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