Lieben kann man nur ein Monster

Am 21. Juli 1922 schrieb Paul Valéry an Catherine Pozzi: "Die korrektest mögliche Verzweiflung ist mir nun geboten." Da hatte sie ihn gerade wieder mal verlassen, selbst verzweifelt darüber, dass Frankreichs Dichter- und Denkerfürst (der zu werden Valéry nach langem literarischem Schweigen eben im Begriff war) das Getändel der Pariser Salons, so empfand sie es, über eine Liebe stellte, die er doch, genauso wie sie, als eine a b s o l u t e begriff - und die als solche beiden unbegreiflich blieb: Mysterium eines Ineinander-Aufgehens, mit dessen Möglichkeit weder sie noch er mehr gerechnet hatten, ein jeder in seiner Vereinzelung längst das einzig denkbare Absolutum sehend.

Umso genauer, umso obsessiver wurde das Liebeswunder, das teilbar und mitteilbar machte, was sie für unteilbar gehalten hatten, von ihnen ausgeleuchtet: in einer über acht Jahre sich hinziehenden, an die zweitausend Briefe und Depeschen umfassenden Korrespondenz. Die aber galt als verschollen - verbrannt unter notarieller Aufsicht gemäß Catherine Pozzis testamentarischem Willen. Und nun liegt da plötzlich doch ein 700 Seiten starker Band vor, La flamme et la cendre betitelt (Gallimard 2006), enthaltend all das, was - sei's als Abschrift, sei's aus Versehen - den Flammen entging: etwa 200 ihrer Briefe, knapp 100 der seinen. Als Valéry 1934 die Nachricht vom Tod der einstigen Geliebten erhielt, verklärte sich ihm der Austausch mit ihr zu "ce que j'ai pu écrire de plus... remarquable, car pour répondre à cet amour - et puis pour le ressuciter - il n'est pas de débauche d'idées, d'inventions, que je n'ai faite, dépensée [...] - pendant des années!"

Dennoch sind es, mehr als seine, ihre Briefe, die diese Ruine einer Liebesbaustelle zu einem so grandiosen Monument der Hingabe und der Qual machen, des mystischen Abhebens wie der sarkastischen Abrechnungen, mit denen sie sein mitunter erbärmliches Flehen nach ihren Ausbruchsversuchen beantwortete - nur um stets wieder einzulenken, zu erliegen der leibhaftigen Vergeistigung sprich Verkörperung allen Esprits, die Valéry für sie war. Sich diesen Leib jedoch vor Augen zu halten! Valéry ging, als sie sich im Juni 1920 begegneten, gegen die fünfzig. Sie war 38, litt seit Jahren an Tuberkulose. Ihre Physiognomie, eher seltsam denn schön zu nennen, schien die Lebensverstrickungen zu spiegeln, die sie bisher gehindert hatten, ihre literarische Karriere zu lancieren. Und doch entbrannten sie augenblicklich füreinander, das mickrige Männlein und das unter bauschigen Gewändern verborgene Knochengestell. Wenig später lebten sie ihre Passion auf Catherines Landsitz in Südfrankeich aus: the beast with two backs, in das Liebende sich verwandeln. Einzigartig waren sie als ein anderes Fabelwesen: Stirn an Stirn verschmelzend - zwei Gehirne, deren Denken sich bis in die feinsten Verästelungen zu durchdringen versucht.

Diese Doppelkreatur hatte es nicht leicht, noch machte sie es sich leicht. Beide waren verheiratet, ihren Platz zwischen Paris und der Côte d'Azur in gesellschaftlichen Sphären suchend, deren Höhe ihren Briefwechsel beiläufig mit Einblicken in mondäne Gepflogenheiten der Zeit funkeln lässt - Belanglosigkeiten neben der Intensität und der Grausamkeit, mit der sie ihren literarischen Verstand unablässig gegen die eigene Passion in Anschlag bringen. Dass Valéry dabei schlecht abschneidet, hat verschiedene Gründe: Den Verlust des größten Teils seiner Briefe (auf 956 bezifferte der Testamentsvollstrecker die von ihm pflichtschuldigst vernichteten Dokumente von Valérys Hand; die Geliebte ihrerseits scheint dazu tendiert zu haben, gerade die ihn desavouierenden Briefe in ihr Tagebuch zu kopieren). Durch die Liebe seines Lebens literarisch beflügelt - allein 1921-22 erschienen mit Eupalinos, La danse und Charmes drei seiner Hauptwerke -, gab Valéry freilich auch zunehmend der Versuchung nach, in gesellschaftlichen Ruhm umzumünzen, was zuvor reine, kontinuierliche, in seinen Cahiers festgehaltene Denkarbeit gewesen war. Dass er Catherine Pozzi alsbald Einblick in diese Hefte gewährte, ja sie zu seiner Nachlassverwalterin bestimmte, zeigt den Grad seines Vertrauens in sie (in der postum erschienenen, 29 Bände füllenden photolithographischen C.N.R.S.-Ausgabe wurden freilich alle von ihrer Hand stammenden Anmerkungen sorgsam getilgt). Umgekehrt wurde ihr Vertrauen in ihn nicht nur durch seine Anbiederung an diverse Pariser Salons erschüttert, durch die er in ihren Augen sowohl sich selbst als auch sie und ihre Liebe fortwährend erniedrigte, sondern zudem durch ihre wachsende literarische Rivalität. Sie, ein literarischer Niemand, bezichtigte ihn schließlich sogar, sich aus ihren (ihm gleichfalls offenliegenden) Manuskripten bedient zu haben.

Als Catherine Pozzi Anfang 1928 ihre so oft schon vorgebrachte Drohung wahrmachte und einer Beziehung ein Ende setzte, die sich stets mehr aus Tintenfässern genährt hatte als von den über all die Jahre hinweg sporadisch gebliebenen, nie ganz unbeschwerten Begegnungen, hatte sie noch sechs Jahre zu leben. Nie wieder erreichte ihn hinfort ein Wort von ihr. "Lieben kann man nur ein Monster", notierte er 1942, drei Jahre vor seinem eigenen Tod, und meinte damit zweifellos sie, die ihm die Wirklichkeit seinesgleichen - und mithin seiner selbst? - vorgegaukelt hatte. In den Ruinen ihrer Liebesbaustelle herumzugeistern, ist nun uns Lesern geboten.

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