Starship 10 Editorial

Der Sieger stellt sich vor das Publikum und holt sich unter Applaus einen runter. Dies geschieht symbolisch, mit Hilfe einer Magnum Champagnerflasche und wird heute, durch sich selbst Bier über den Kopf schütten, ersetzt. Bei allem dieser neuen Geste zugestandenen kindlichen Experimentiereifer, wird mit dieser Verschiebung die klassische autoerotische Geste unlesbar. Sich selbst auf den Kopf pissen kann man nicht, dafür benötigt es Andere. Aus dem früheren sexuellen Bild ist die Sexualität entfernt worden. Und dieses Bild teilt sein Schicksal mit vielen vor ihm. Und vielen Worten. Am prominentesten vielleicht die Worte dezentriert, molekular und organlos des Anti-Ödipus, diesem Klassiker des Begehrens, in deren Anwendungen alle sexuellen Hinweise so gründlich entfernt wurden, dass ihre Bedeutung ungefähr bei disparat, atomisiert und körperlos angekommen ist. War all das nicht geschrieben worden, um der Leidenschaft eine Form, eine Farbe und eine Intensität zu geben? (Man verliert sich in seinem Leben, in dem, was man schreibt, in dem Film, den man dreht, wenn man nach der Identität der Sache fragt. Es geht darum, etwas hervorzubringen, das zwischen den Ideen geschieht und das man nicht benennen kann. Man muss vielmehr ständig versuchen, ihm eine Farbe, eine Form, eine Intensität zu geben, die niemals sagt, was sie ist.)

Der Wunsch nach Ordnung und zuordenbaren Identitäten verpaßt der Sexualität unter den Begriffspaaren Ökonomie und Ablauf / Script in der Pornographie einen Büroarbeitsplatz. Welches Interesse könnte man dafür haben? Noch mehr Abläufe, noch mehr Scripts, noch mehr Rollen und noch mehr vorgefertigte Bilder. Wo bleibt hier die Notwendigkeit der Bewegung Bedeutung zu geben, die nicht durch Institutionen abgesicherte Personen einander näher bringt? Nämlich, wie Michel Foucault weiter schreibt, eine Bewegung, die sich von A bis Z selbst erfinden muß, und eben kein institutionelles Ziel und keinen verscripteten Ablauf kennt. Und damit aber einen Topos beschreiben könnte, einen Ort, ohne daß sich allerdings daraus eine Regel machen ließe. Diese Begegnung kann ja auch schief gehen. Der Hebel der Pornografie wird ihr nicht helfen, ausser dass sie dem Wunsch mancher nach einfachen, konsumierbaren Mustern entsprechen mag, die Andere und andere Erfahrungen gleich macht. So normal, dass keine Beunruhigung mehr darin liegt. Das andere, das wir begehren, wird aber auch in der Leidenschaft nicht mehr zum Selbst.

Was ist Leidenschaft ? Es ist ein Zustand, etwas, das dich überkommt, das sich deiner bemächtigt, das dich festhält, das keine Pause kennt und keinen Ursprung hat. Tatsächlich weiss man nicht, woher das kommt. Die Leidenschaft ist einfach da. Es ist ein Zustand, der sich ständig verändert, aber keinem bestimmten Ziel zustrebt. Es gibt starke Momente und schwache Momente, und es gibt Augenblicke, in denen sie zur Weissglut gelangt. Es treibt dahin. Es schaukelt. Ein instabiler Augenblick, der aus dunklen Gründen weitergeht, vielleicht aus Trägheit. Es sucht letztlich sich zu erhalten und zu verschwinden. Die Leidenschaft tut alles, um fortzubestehen, und zugleich zerstört sie sich selbst. In der Leidenschaft sind wir nicht blind. In leidenschaftlichen Augenblicken sind wir nur nicht mehr wir selbst. Es hat keinen Sinn mehr, wir selbst zu sein. Man sieht die Dinge ganz anders.

1244 - 2007 Michel Foucault

Alle Zitate des Textes auf dieser Seite sind aus Dits et Ecrits, Schriften IV von Michel Foucault. Alle sind aus Interviews. Es scheint das gesprochene Wort die einfachere Form der Beschreibung der Sexualität. Sein Buch Der Gebrauch der Lüste beginnt dagegen weit abweisender:
„Diese Untersuchungen erscheinen später als vorgesehen und in einer anderen Form. Warum ? Es sollte weder um eine Geschichte der Verhaltensweisen noch um eine Geschichte der Vorstellungen gehen. Sondern um eine Geschichte der „Sexualität“: die Anführungszeichen haben ihre Bedeutung.“

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